Interpretation des Poimandres von Alvisi vom Roten Stein.
Jede Frau, die sich als Heidin versteht oder sich mit dem Neopaganismus identifiziert, sollte die wichtigsten hermetischen Texte kennen. Wer sich ernsthaft mit den Wurzeln der eigenen Weltanschauung auseinandersetzen möchte, kommt an diesen Urschriften nicht vorbei. Falls die Zeit dafür fehlt, dann sollten zumindest zwei Werke nicht unbeachtet bleiben: der Poimandres und die Tabula Smaragdina. Diese beiden bilden den geistigen Kern moderner spiritueller Bewegungen. Und wenn selbst dafür kaum Zeit bleibt – dann finden Sie hier eine kompakte, verständliche Zusammenfassung. Denn wirklich niemand sollte behaupten müssen, es habe an 10 Minuten Lesezeit gefehlt, um sich mit diesen entscheidenden Inhalten vertraut zu machen.
Der Poimandres ist die erste und grundlegende Schrift des Corpus Hermeticum, einer Sammlung philosophisch-mystischer Lehren aus dem spätantiken Ägypten (ca. 1 – 3. Jahrhundert n. Chr.). Es handelt sich um einen jener Texte, die Hermes Trismegistos, dem göttlichen Weisheitslehrer, zugeschrieben werden. In der Schrift begegnet der Schüler dem Poimandres, dem göttlichen Geist, in einer Vision, in der ihm das Wesen des Kosmos offenbart wird. Tatsächlich aber führt der Schüler einen inneren Dialog mit seinem eigenen göttlichen Geist.
In tiefer Versenkung begegnet der Schüler dem Poimandres als lichtgleiche Gestalt von überwältigender Größe. Der Schüler trägt offenbar schon lange den tiefen Wunsch in sich, zu verstehen, welchen Ursprung die Welt hat und welchen Platz der Mensch in ihr einnimmt. In seiner Vision antwortet ihm Poimandres auf seine unausgesprochenen Fragen. Er eröffnet ihm ein Bild der Schöpfung, das ebenso symbolisch wie metaphysisch ist: Die Welt, so zeigt Poimandres, ist aus Gott hervorgegangen – aus dem Licht, dem Leben und dem göttlichen Geist. Durch ein heiliges Wort wurde sie ins Dasein gerufen. Aus dem göttlichen Klang formten sich die Urkräfte der Elemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde – getragen vom Äther –, sowie die sieben Sphären, die das kosmische Gleichgewicht bewahren. Diese Sphären, durch die das Schicksal wirkt, ordnen die Bewegung der Welt.

Gott ist Geist – und sowohl männlich als auch weiblich
„Der göttliche Geist, der Gott, ist sowohl männlich als auch weiblich, ist das Leben und das Licht.“
(vgl. 9.1)
Poimandres beantwortet dem Schüler die Frage nach Gott. Gott ist kein Mensch, auch kein Wesen, sondern reines Licht – ein Prinzip göttlicher Wirklichkeit, das sich dem Schüler in der Vision offenbart. Gott, so erklärt Poimandres weiter, ist sowohl männlich als auch weiblich. Das Licht, der göttliche Geist, hat kein Geschlecht.
Der Gedanke der Androgynität Gottes taucht erneut in 15.5 auf – diesmal im Bezug auf den Menschen:
„Obwohl er sowohl männlich als auch weiblich ist, vom Göttlichen stammend, das ebenfalls sowohl männlich als auch weiblich ist, wird er von der Unbewusstheit beherrscht.“
Der Mensch ist das Ebenbild Gottes – nicht nur als Geistwesen, sondern auch in seiner geschlechtlichen Ganzheit. Wie Gott das Männliche und Weibliche in sich vereint, so auch der ursprüngliche Mensch, bevor sich im Schöpfungszyklus die Geschlechter trennten (vgl. 18.1). Gemeint ist damit kein biologischer, sondern ein geistiger Zustand – der Mensch, gleich welchen Geschlechts, trägt auch nach der Trennung sowohl weibliche als auch männliche Anteile in sich.
Der Mensch ist ein Doppelwesen: sterblich und unsterblich
Der Mensch, so lehrt Poimandres, ist ein Geschöpf des Göttlichen, erschaffen als dessen Abbild. Doch er ist nicht nur göttlicher Geist wie Gott – er ist zugleich Körper. Damit trägt er zwei Naturen in sich:
„Deshalb ist der Mensch unter allen Lebewesen auf der Erde ein Doppelwesen: sterblich durch den Körper, unsterblich aber wegen dem Geist.“
(vgl. 15.1)
Er ist damit ein Wesen zwischen Welt und Gott, dem Physischen und dem Metaphysischen, dem Körper und dem Geist. In dieser Doppelnatur lebt er in einer ständigen Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.
Der Mensch ist Gott und gleichzeitig der Sohn Gottes
Der Poimandres entfaltet eine tiefgreifende Lehre über das Verhältnis des Menschen zu Gott. Der Mensch ist nämlich nicht nur sein Geschöpf, sondern auch selbst göttlich. Er ist sowohl Gott als auch der Sohn Gottes – eine Aussage, die sich nur auf den ersten Blick widerspricht.
In 6.1 sagt Poimandres:
„Jenes Licht, das von der feuchten Materie aus der Finsternis erschien, das bin ich, dein Gott. Und das lichtvolle Wort ist der Sohn Gottes.“
Poimandres offenbart sich dem Schüler als Gott selbst. Das lichtvolle Wort, so erklärt er, ist der Sohn Gottes – das schöpferische Wort, das in dem Moment Wirklichkeit wird, in dem Gott es ausspricht.
In einem dialogischen Moment wird das Verhältnis von Selbsterkenntnis, Geist und göttlichem Ursprung vertieft:
„Du scheinst, mein Sohn, nicht verstanden zu haben, was du gehört hast. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mit dem göttlichen Geist erkennen?“
(20.1–21.1)
Der Mensch ist selbst göttlich und besitzt schöpferische Macht
Poimandres identifiziert sich also zunächst mit dem Licht selbst, das aus der Urmaterie hervortritt – der Urquelle des Seins. Dieses Licht gebiert durch das Wort die Materie. Doch später wird deutlich, dass Poimandres nicht nur als Gott auftritt:
„Warum aber besitzt jener, der sich selbst erkennt, das Wort Gottes?“
— Ich sagte: „Weil das Göttliche aus Licht und Leben besteht, und der Mensch aus ihm hervorgegangen ist.“
— „Du sagst es“, sagte er.
(20.1–21.1)
Das bedeutet: Der Gott, der aus dem Licht hervorgeht, ist zugleich der göttliche Geist im Menschen selbst. Diese schöpferische Kraft, die im Ursprung göttlich ist, wohnt im Menschen und wirkt in ihm. Der Mensch – oder präziser: sein Geist – ist göttlich, weil er von demselben Licht und Leben stammt.
Zugleich ist aber auch vom Sohn Gottes die Rede – dem Licht-Wort, das aus Gott hervorgeht und sich in der Welt verwirklicht. In diesem Sinne ist der Mensch – vor allem in seiner Verkörperung – auch Ausdruck des Wortes, des Logos, und damit selbst Sohn Gottes. Wenn Gott das Wort spricht, wird es zur Materie.
Hier wird die tiefste hermetische Wahrheit ausgesprochen: Wer sich selbst erkennt, weiß, dass er aus Gott hervorgegangen ist – aus Licht und Leben. Der Mensch trägt das Wort Gottes in sich, weil er aus derselben Materie stammt wie dieses Wort.
So ist der Mensch zugleich göttlich und göttliches Kind – göttlicher Geist und fleischlicher Körper – in seinem innersten Wesen eins mit dem Geist, in seiner Erscheinung Ausdruck des Wortes. Wer dies erkennt, tritt in das Bewusstsein seiner Herkunft ein – und kann zum göttlichen Menschen werden.
In einem entscheidenden Dialog macht Poimandres unmissverständlich deutlich, wie tiefgreifend die Wahrheit ist, dass der Mensch selbst göttlich ist:
„Und als der Mensch die Werke des Schöpfers erkannte, wünschte auch er, zu erschaffen, und es wurde ihm vom Göttlichen gewährt.“
(13.1)
Der Mensch ist also nicht nur Abbild Gottes, er ist auch Mitschöpfer. Die göttliche Ordnung gewährt ihm die Fähigkeit zu erschaffen – und er erschafft die Welt mit.
Selbsterkenntnis ist der Weg zur Göttlichkeit
Nachdem Poimandres dem Schüler die verborgenen Zusammenhänge von Gott, Welt und Mensch offenbart hat, wendet er sich dem entscheidenden praktischen Teil seiner Lehre zu. Denn was nützt es, zu wissen, dass man göttlichen Ursprungs ist, wenn man nicht versteht, wie man diese Erkenntnis zur Wirklichkeit werden lässt? Göttlichkeit ist keine abstrakte Idee, sondern eine lebendige Kraft – doch sie muss erkannt und verwirklicht werden.
An dieser Stelle gibt Poimandres dem Schüler den Schlüssel zur Selbstverwirklichung mit – jene berühmte Formel, die zum innersten Kern hermetischen Denkens geworden ist:
„Der vernünftige Mensch soll sich selbst erkennen.“
(21.10)
Diese Aufforderung ist ein Aufruf zu einem radikalen inneren Weg. Nur wer sich selbst erkennt, erkennt sein wahres Wesen – und dieses Wesen ist göttlich.
Der Mensch kann seine Herkunft aus Licht und Leben nur dann wirklich begreifen, wenn er dieses Licht in sich selbst wiederentdeckt. Die Selbsterkenntnis ist daher der Pfad zur Rückkehr zum Göttlichen – nicht über äußere Taten oder religiöse Rituale, sondern durch die bewusste Einsicht in das eigene Sein.
Poimandres macht damit deutlich: Die göttliche Schöpferkraft liegt nicht außerhalb des Menschen – sie liegt in ihm selbst. Und sie wird dann wirksam, wenn der Mensch aufhört, sich mit dem bloßen Körper zu identifizieren, und beginnt, sich als das zu begreifen, was er im Ursprung ist.
Der Poimandres ist ein mystischer Spiegel: Er zeigt dem Menschen seine Herkunft, seine Bestimmung und seine Verantwortung. Gott ist lichtvoller Geist – und der Mensch ist lichtvoller Geist in Fleisch. Wer sich seiner geistigen Herkunft erinnert und danach lebt, der kann sich aus der Dunkelheit der Materie befreien und wird zum lichtvollen Mitschöpfer der Welt.
Quellen:
Poimandres – aus dem Corpus Hermeticum, weiberkraft.com
Beitragsbild: KI