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Die Malve und die Alraune

Aus dem Picatrix


Nacherzählt von Alvisi vom roten Stein.


Malve

In fernen Zeiten wurde ein weiser Mann des Nachts von der Erscheinung einer Malve heimgesucht.

„Du musst wissen, dass mein Name einer von Merkur ist,“ vertraute sie ihm an. „Ich bin im Zwiespalt mit der Alraune, denn sie beansprucht diesen Titel für sich. Ich bitte dich, an die Weisen von Babel zu schreiben, auf dass sie richten mögen zwischen uns, denn ihr Wissen übersteigt unser beider Verständnis. Sie wissen viel mehr als wir. Ich selbst bin der Federkunst nicht mächtig, daher habe ich dich von allen Menschen auserkoren.“ 

Also schrieb der Mann an die Weisen von Babel. Schon bald erhielt er eine Antwort: „In unserer Sichtweise ist die Alraune aufgrund ihrer großen Kräfte mächtiger als die Malve. Doch sie wandelt auf dunklen Pfaden, ist trickreich, verschlagen und gefährlich. Wir verteidigen die Alraune daher nicht, denn wir kennen ihre Schattennatur. Beide Pflanzen, sowohl die Alraune als auch die Malve, sind von gleicher Natur, gehören aber zu zwei unterschiedlichen Planeten: Dem Merkur und dem Saturn. Unsere Wahl für die Alraune begründet sich in ihrer Macht, die unsere magische Arbeit bereichert. Wir verwenden auch die Malve in einigen Momenten, unter anderem zur Schaffung eines Schutzzaubers. Aber die Wirkung der Alraune ist viel stärker, und daher verwenden wir sie öfter.” 

Als die Malve ihm wieder im Traum erschien, trug der Mann ihr das Urteil der Weisen vor: “Du, sanfte Malve, bist das Licht. Die Alraune jedoch ist der Schatten. Aus Furcht vor dem Schatten neigen die Weisen sich ihr zu. Das allein zeigt, dass du von höherer Art bist. Die Angst vor der Alraune gleicht der Furcht vor wilden Bestien. So wie die Menschen, unter denen es gute und böse gibt. Im ersten Moment sieht man zwischen ihnen keinen Unterschied, aber es gibt einen: Die Guten leben im Frieden ihrer reinen Seele, während die Verdorbenen in ihren düsteren Gedanken gefangen sind. Die Guten führen ein besseres Leben, weil sie ein gutes Gewissen haben. Wer ein gutes Gewissen hat, genießt das Leben, isst und trinkt, aber wer ein schlechtes Gewissen hat, kann nichts genießen, weil er in seinem Herzen immer nur mit dem Bösen beschäftigt ist.” Die Malve bedankte sich bei ihm und war aus seinen Träumen verschwunden.

Das Gespräch mit der Malve ließ den Mann nicht mehr los. Er wollte sicherstellen, dass ihre planetare Zugehörigkeit und ihre wahre Natur niemals mehr in Vergessenheit geraten würden. Deshalb ließ er der Malve zu Ehren inmitten des Dorfes ein Denkmal errichten. Es zeigt einen Mann, der an einen Baum gelehnt ist, von dessen Zweig eine Schlange hängt. Diese kann dem Mann jedoch nichts anhaben, denn er hält in seiner Hand einen Malvenzweig.


Bild: KI