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Theoris von Lemnos

Die Frau, auf die man einen Mythos projizierte

Das erste Opfer des Hexenwahns, lange vor der Zeit der Inquisition


Die Kräuterfrau (pharmakis) und Seherin (mantis) Theoris von Lemnos wurde vor 323 v. Chr. zusammen mit ihrer gesamten Familie hingerichtet. Der Grund der Anklage ist unklar. Die Geschichte, die sich im Laufe der darauffolgenden Jahre und Jahrzehnte rund um sie spann, ist eine Projektion eines antiken Mythos: Der Mythos der Lemnischen Frevel.  

Theoris von Lemnos
⛤ vor 323 v. Chr., Griechenland

Hoheitsgewalt: Nach innen Hoheitsgewalt über seine Bürger, nach außen makedonische Hegemonie
Herrschaftsform: Polis mit demokratischen Institutionen, allerdings stark eingeschränkt durch die makedonische Hegemonie
Landesherrschaft: König von Makedonien, 323 v. Chr. Alexander der Große (bis zu seinem Tod am 10. Juni 323 v. Chr.). Nach seinem Tod unklare Nachfolgeregelung (Diadochenkämpfe).
Reichszugehörigkeit: Teil der makedonischen Hegemonie (Alexanderreich)
Reichskreiszugehörigkeit:
Höchste kirchliche Autorität: Keine. Die antike griechische Religion war polytheistisch und stadtgebunden organisiert.
Höchste regionale kirchliche Autorität: Die Polis verwaltete den Kult. Leitend waren die Archonten (die obersten Beamten in Athen)
Höchste weltliche Autorität: König Alexander der Große
Höchste regionale weltliche Autorität: Der makedonische Strategos (Militärgouverneur) in Athen und die athenischen Volksversammlungen, die allerdings nur unter makedonischem Druck agieren konnten.
Konfessionszugehörigkeit: Griechischer Polytheismus, Hauptgötter in Athen waren Athene Polias, Poseidon, Zeus, Dionysos, Apollon

Theoris lebte im 4. Jahrhundert v. Chr. in Athen. Sie war eine Pharmakis (Kräuterfrau), deren Heilkräuterrezepturen von ihrer Sklavin gestohlen und vom Liebhaber der Sklavin dazu benutzt wurden, seine Geschäfte als Quacksalber zu betreiben. Theoris wurde mit ihrer gesamten Familie hingerichtet. Die genauen Gründe sind unbekannt. Alles deutet jedoch darauf hin, dass es ein Mythos war, der mitschwingend die Bereitschaft erhöht hat, Theoris als gefährliche Hexe abzustempeln.

Mythologien waren tief in die Kultur der Athener eingebettet und bildeten die Grundlage ihrer Religion. Sie prägten Feste, Kunst, Erziehung, und sogar Politik und Rechtssprechung. Auch die Vorstellungen von Gerechtigkeit wurden von Mythen geprägt, und das wiederum beeinflusste indirekt die Gesetzgebung. Kurz: Mythische Sagen waren der tragende Bestandteil der kollektiven Identität. Wenn man es mit der heutigen Zeit vergleichen wollen würde, könnte man sagen, dass diese Erzählungen für die antiken Griechen eine ähnliche Funktion hatten wie einzelne Schriften der Bibel für Christen.

Im politischen Bereich griffen Redner und Philosophen häufig auf Mythen zurück, um ihre Argumente anschaulich zu machen oder moralisch zu unterlegen. In der Volksversammlung oder vor Gericht waren bildhafte Verweise auf bekannte Göttergeschichten und Heldensagen sehr wirkungsvoll, da sie beim Publikum sofort Assoziationen hervorriefen. Mythen dienten also in allen Bereichen als rhetorisches Werkzeug – auch bei der Erzählung der Geschehnisse rund um Theoris von Lemnos. Besonders zwei davon fügen sich so sehr in die Hintergrundgeschichte von Theoris ein, dass es zu gut ist, um ein Zufall sein zu können.

Theoris stammte ursprünglich von Lemnos, einer Insel, die den Ruf hatte, von Frauen bewohnt zu werden, die Verbrechen begingen. Der Mythos berichtete davon, dass die Frauen von Lemnos einst die Göttin Aphrodite erzürnten, weil sie ihre Opfer vernachlässigten. Zur Strafe belegte Aphrodite sie mit einem üblen Fluch: Sie verströmten einen so schrecklichen Körpergeruch, dass ihre Männer sie nicht mehr berühren wollten. Die Männer von Lemnos wandten sich daraufhin aus Abscheu den thrakischen Sklavinnen zu. Aus Eifersucht, Wut und Demütigung beschlossen die Lemnierinnen schließlich, grausame Rache zu nehmen: Sie erschlugen in einer einzigen Nacht alle Männer der Insel – Ehemänner, Väter, Brüder und sogar Söhne. Als ihnen schließlich die Männer zur Fortpflanzung fehlten, wollten sie die Argonauten verführen, die nur unter großer Anstrengung dazu bewegt werden konnten, weiterzufahren.

Theoris lebte zur selben Zeit wie der Quacksalber Eunomos – dem Bruder des oppositionellen athenischen Politikers Aristogeiton. Eunomos – womöglich ein Konkurrent, der wie Theoris seinen Lebensunterhalt als Mantis und Pharmakeus verdienen wollte – zeugte mit der Sklavin von Theoris ein Kind und verleitete diese, die Heilrezepte ihrer Herrin zu stehlen. Mit dem Kräuterwissen von Theoris versuchte er, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, indem er vorgab, mithilfe der gestohlenen Mittel Epilepsie heilen zu können.

Die Familie, an die Theoris durch ihre Sklavin hineingeriet, war alles andere als ehrbar und galt in Athen als Beispiel für gesellschaftlichen Makel. Eunomos und Aristogeiton mussten nach dem Tod ihres Vaters dessen Staatsschulden übernehmen, nachdem dieser im Schuldgefängnis gestorben war. Ihre Mutter war als Ehebrecherin verurteilt worden. Aristogeiton kämpfte in seinen Reden gegen korrupte Politiker, verkaufte jedoch selbst seine eigene Halbschwester als Sklavin. Eine höchst komplizierte Familiengeschichte.

Zwar war die Lebenspraxis der Athener Politiker und Redner nicht selten von Intrigen, Korruption, persönlichen Fehden und Skandalen durchzogen, doch eine solche Konstellation wie sie in der Geschichte rund um Theoris auftaucht, war auch für das antike Griechenland keineswegs „normal“. Vielmehr handelte es sich hier um einen Extremfall, der gerade deshalb in den Quellen auftaucht, weil er als Skandalgeschichte diente. Im Allgemeinen waren Athener Familien bemüht, ihren Ruf zu wahren, denn soziale Ehre und Ansehen waren im Stadtstaat entscheidend für politische Teilhabe und bürgerliche Rechte. Fälle wie jener von Aristogeiton und seinen Angehörigen – ein Vater, der im Schuldgefängnis stirbt, eine Mutter, die wegen Ehebruchs verurteilt wird, ein Sohn, der seine Halbschwester verkauft – erscheinen in den Gerichtsreden als abschreckende Beispiele für „asoziale“ oder „ehrlose“ Lebensweisen. Auch die Verbindung zu magischen Praktiken und Quacksalbereien (wie im Fall des Eunomos) galt in Athen als sozialer Makel, der die Glaubwürdigkeit aller Beteiligten vollends zerstörte.

Warum – und ob überhaupt – Theoris selbst sich mit dieser Familie eingelassen hatte, bleibt spekulativ. Sicher belegt ist lediglich der Kontakt ihrer Sklavin zu Eunomos. Gerade die Tatsache, dass über Theoris so wenige gesicherte Fakten überliefert sind, könnte darauf hindeuten, dass sie eine ehrenwerte Frau mit redlichen Absichten war, die durch unglückliche Umstände in Verruf geriet und dies schließlich mit ihrem Leben bezahlen musste.

Was kann man über Eunomos sagen? Er ist der eigene Bruder des Angeklagten Aristogeiton. Es war dieser Bruder – ich überspringe die anderen Fakten –, der die Drogen und Zaubertränke von der Sklavin von Theoris von Lemnos beschafft hat, dieser schmutzigen Zauberin, die Sie, ehrenwertes Gericht, aus diesem Grund zusammen mit ihrer gesamten Familie hinrichten ließen.“
DEMOSTHENES 25, AGAINST ARISTOGITON 1


Literatur zu Theoris von Lemnos:
Demosthenes 25, Against Aristogiton, topostext.org

Quellen:


Bild: KI