Vom Freispruch zum Galgen
Opfer der Hexenverfolgung in Transsilvanien
11.08.2025
Die ungarischstämmige Hebamme Orsolya Sós (auch: Ursula), Ehefrau des János Sós aus Klausenburg (ung. Kolozsvár, rum. Cluj-Napoca) wurde der Hexerei bezichtigt, inhaftiert, gefoltert und hingerichtet.

Hoheitsgewalt: Osmanisches Reich
Herrschaftsform: Erb- bzw. Wahlmonarchie, Osmanischer Vasallenstaat
Landesherrschaft: Stefan Báthory
Reichszugehörigkeit: –
Reichskreiszugehörigkeit: –
Höchste kirchliche Autorität: Papst
Höchste regionale kirchliche Autorität: András Báthory (Sohn von Stefan Báthory)
Höchste weltliche Autorität: Der osmanische Sultan
Höchste regionale weltliche Autorität: Stefan Báthory
Weitere Beteiligte:
zwei Stadtsanwälte – Ankläger (György Igyártó, zweite Person unbekannt)
Stadtrichter Kirshner
Stadtrichter Katonaj
19 Jahre war es her, dass die beiden Hebammen Prisca Kőmíves[1] und Clara Bochÿ[2] in Cluj-Napoca hingerichtet worden waren. Nachdem deren Platz frei geworden war, trat die damals noch junge Orsolya in ihre Fußstapfen und nahm ihre Tätigkeit in der Stadt auf.
Orsolya entwickelte sich zu mit den Jahren zu einer harte und entschlossenen Person, vergleichbar mit ihrer Vorgängerin Clara Bochÿ, die ebenfalls nicht davor zurückschreckte, Respekt durch ein unerschütterliches Auftreten einzufordern. Eine solche Vorgehensweise war im frühneuzeitlichen Transsilvanien keineswegs ungewöhnlich. Die Zeiten waren hart, und Hebammen mussten sich allein darum kümmern, dass sie von den Familien, die sie unterstützten, angemessen entlohnt wurden.
Hebammenarbeit war wirtschaftlich prekär. Frauen, die diesem Beruf nachgingen, lebten nicht von einem festen Gehalt wie städtische Beamte, Soldaten oder kirchliche Würdenträger, sondern von unregelmäßigen Honoraren, die direkt von den Familien kamen, denen sie zur Hand gingen. In den Gemeinschaften jener Zeit hatte die Hebamme nichts mit einer „Pflegekraft“ im modernen Sinne zu tun, sondern wurde als handwerklich tätige Frau betrachtet, deren Arbeit zwar notwendig, aber sozial nicht besonders hoch angesehen war. Tätigkeiten, die mit Blut, Körperflüssigkeiten oder Geburtssekreten verbunden waren, galten vielerorts – auch in rumänischen Regionen – als „unrein“ oder „niedrig“. In dieser Wahrnehmung stand die Hebamme in einer Reihe mit dem Barbier (der auch chirurgische Aufgaben übernahm) oder dem Bader (für kleinere medizinische Behandlungen). Auch bei diesen Berufen gehörten Tätigkeiten wie Aderlass, Zähne ziehen, Abszessentleerung oder das Behandeln von Wunden zum Alltag.
Die Bezahlung hing oft davon ab, ob man rechtzeitig gerufen wurde und ob die Familie überhaupt zahlte. Besonders in ärmeren Haushalten war es üblich, wenig oder gar nichts zu geben – oft mit der Erwartung, dass Hebammen „aus christlicher Nächstenliebe“ helfen sollten. Der starke Konkurrenzdruck unter den Hebammen, verbunden mit der Tatsache, dass es weder offizielle Berufsverbände noch Zünfte gab, die sie vor unlauterer Konkurrenz und damit vor Lohnausfall schützten, machte den Beruf unsicher. Hebammen standen sozial am Rand der Gemeinschaft und verfügten weder über politische noch über wirtschaftliche Macht. Ihre Autorität mussten sie selbst behaupten – in einer Männerwelt, die Frauenberufe gering schätzte. Härte und Durchsetzungsvermögen waren daher für viele Frauen im Überlebenskampf ein Muss. Wer zu sanft auftrat, riskierte, dass andere an ihr vorbeizogen oder dass sie schlicht ausgenutzt wurde.
Orsolya war jedoch auch eine liebevolle Mutter und eine geschätzte Hebamme. Sowohl ihre bereits verheiratete Tochter Júlia Zemetbiró als auch mehrere andere Zeugen sagten zu ihren Gunsten aus. Sie pauschal als boshaft und tyrannisch darzustellen, würde Orsolyas Charakter daher nicht gerecht werden – auch wenn genau dieses Bild durch die gegen sie gerichteten Zeugenaussagen vermittelt werden sollte.
Die Aussagen der Zeugen, die gegen Orsolya sprachen, folgten dem altbekannten Muster: Orsolya habe sie mit Worten wie „Das wirst du bereuen“ bedroht, und kurz darauf seien die Kinder der Betroffenen erkrankt. Manche beschuldigten sie sogar, dass durch ihre Drohungen Kinder gestorben seien. Beweise dafür gab es jedoch keine. Vielmehr wirkten die Aussagen auch für damalige Verhältnisse gezielt konstruiert. Oft wurde Orsolya auf der Grundlage von Ereignissen diffamiert, die Jahre oder Jahrzehnte zurücklagen, nach dem Prinzip: „Vor zehn Jahren hat sie mich bedroht, und jetzt ist meine Tochter krank geworden.“
Jemand musste also die Leute gegen Orsolya aufgebracht haben – jemand, der aus einem persönlichen Interesse oder einer bestimmten Zielsetzung heraus ein Motiv hatte, gegen sie vorzugehen.
Bei seiner Einvernahme erklärte Ferenc Kőműves, seine heute erwachsene Tochter sei bei der Geburt vollkommen gesund gewesen. Da jedoch nicht Orsolya, sondern eine andere Hebamme zur Entbindung gerufen worden sei, habe Orsolya das Kind verhext. Sie habe ihm dies nach der Geburt seiner Tochter durch die Botschaft ausrichten lassen, er werde es bereuen, dass sie nicht geholt worden sei. Als das Mädchen bereits laufen und sprechen konnte, sei ihr Bein plötzlich durch das Antoniusfeuer – eine bakterielle Hautentzündung (Erysipel) – gelähmt worden. Diese Lähmung führte Ferenc unmittelbar auf die vermeintliche Verhexung durch Orsolya zurück.
Genau diese Begebenheit schilderten im Prozess gegen Orsolya auch zahlreiche andere Personen, darunter seine Schwägerin und eine Bekannte der Familie. Die Geschichte von Ferenc Kőműves zog sich wie ein roter Faden durch die gesamten Zeugenaussagen: Immer wieder berichteten Zeugen von der Tochter des Ferenc Kőműves, die gesund zur Welt gekommen sei und erst Jahre später einen gelähmten Fuß bekam – nachdem Orsolya ihm nach der Geburt hatte ausrichten lassen, er werde es bereuen, sie nicht zur Entbindung gerufen zu haben.
Die Vermutung, die Krankheit des Kindes könne das Antoniusfeuer sein, stammte von Ferenc Kőműves’ Schwägerin Klára, der Schwester seiner Ehefrau. In der Absicht, dem Mädchen zu helfen, führte sie ein Ritual durch: Sie hielt eine geweihte Kerze über den Fuß des Kindes und versuchte, „das Antoniusfeuer auszublasen“, um die vermeintliche Verhexung zu lösen. In der darauffolgenden Nacht, so berichtete Klára, sei Orsolya im Haus erschienen und habe sie im Bett an den Haaren gepackt, offenbar mit der Absicht, sie zu töten. Klára habe sie jedoch erkannt und ihr entgegnet: „Du kannst mir nichts anhaben, denn ich habe dich erkannt.“ Daraufhin sei Orsolya zurückgetreten, habe sich mit dem Hinterteil gegen den Tisch gestützt, sodass dieser krachte, und habe anschließend einen weiteren Angriff versucht. Vom Lärm sei Kláras Tochter erwacht, worauf ihre Mutter sie anwies, zu beten. Danach habe sich Orsolya zurückgezogen. Am nächsten Tag wies Klára alle in ihrem Haus an, nichts an Fremde herauszugeben. Tatsächlich sei daraufhin eine Frau namens Billerné erschienen und habe um Essig gebeten, was in ungarischen und transsilvanischen Vorstellungen als gefährlich. Wer Essig an „verdächtige“ Personen abgab, könnte damit sein eigenes Glück verlieren, denn Essig wurde als Trägerflüssigkeit für Flüche und Schadenszauber betrachtet. Für Klára war dies ein eindeutiges Zeichen, dass Orsolya sie bedrohte und ihr Schaden zufügen wollte.
Nach über 30 Zeugeneinvernahmen stand das Urteil fest: Für die Stadtrichter wogen die Inhalte der Zeugenaussagen zu leicht. Zu wenige handfeste Beweise, zu viele Gerüchte. So sprach das Gericht Orsolya am 16. Juni 1584 frei. Was die arme Frau jedoch nicht ahnte: Im Gericht saß ein Stadtsanwalt, der noch eine persönliche Rechnung offen hatte. György Igyártó war ein Stadtsanwalt mit Mission. Er war 1579 selbst unter dem Verdacht angeklagt worden, seine erste Frau vergiftet zu haben[3]. Seitdem nutzte er Hexereiverfahren gezielt, um seine Ankläger und Gegner vor Gericht zu zerren. Mit der Zeit entwickelte sich sein Hexenwahn zum Geschäftsmodell. Er trat in Hexenprozessen als persönlicher Anwalt im Namen der Ankläger auf. Allein 1584 verurteilte György Igyártó sechs Frauen[4] zur Höchststrafe auf dem Scheiterhaufen.
Die Stadtsanwälte legten unter dem Einfluss von György Igyártó Berufung ein, und nur drei Tage nach ihrem Freispruch wurde Orsolya schließlich doch für schuldig befunden.
Orsolya hatte nicht nur die Arbeit der 19 Jahre zuvor als Hexen hingerichteten Prisca Kőmíves[1] und Clara Bochÿ[2] übernommen, sondern teilte am Ende auch deren Schicksal – die Hinrichtung. Wohl niemals hätte Orsolya geahnt, dass sie eines Tages das tragische Ende jener Frau einholen würde, in deren Fußstapfen sie getreten war: Prisca Kőmíves, die als Hexe verurteilt worden war.
Doch genau so kam es.
Denn das Mädchen mit dem gelähmten Bein, die Tochter von Ferenc Kőmíves, war in Wahrheit die Urenkelin von Prisca – und Ferenc selbst ihr Enkel. Ferenc hatte als kleiner Junge miterleben müssen, wie seine Großmutter als Hexe verurteilt und hingerichtet wurde. Nach ihrem Tod blieb er in Cluj, doch der Schatten dieses Ereignisses wich niemals von ihm. Hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt, er sei der Enkel einer Hexe – ein Makel, der in einer Gemeinschaft wie der damaligen Stadt fast ebenso schwer wog wie eine offene Anklage.
Mit diesem Stigma aufzuwachsen, formt einen Menschen. Ferenc lernte früh, sich zu behaupten, zugleich aber auch, dem Urteil anderer zu misstrauen – und im schlimmsten Fall diesem Urteil mit einer eigenen Anschuldigung offensiv zu begegnen. Er heiratete, gründete eine Familie – und bekam eine Tochter. Doch gerade diese Tochter, das Kind des Enkels einer hingerichteten Hexe, erlitt ein Schicksal, das in den Augen der Leute nur allzu gut in die alten Gerüchte passte: Die Urenkelin einer Hexe bekam ein gelähmtes Bein. Damit stand die Familie Kőműves natürlich unter Beobachtung. In einer Zeit, in der Aberglaube und Verdacht leicht zu einem Todesurteil führen konnten, lag der Gedanke nahe, den Verdacht von sich selbst wegzulenken. Was lag also näher, als jemand anderen zu beschuldigen, das Kind sei verhext worden, um die eigene Familie zu schützen?
Klausenburg, am 16. Juni 1584
Da die Beweise unklar sind und es nur einen einzigen Augenzeugen gibt so erscheint es dem Gericht angebracht, dass die Angeklagte ihre Unschuld durch einen Reinigungseid beweist, und zwar zusammen mit sieben ihrer unmittelbaren Nachbarinnen, die ehrbar, untadelig und im Besitz von Bürgerrecht sind. A. legt Berufung bei den Herrn Senatoren ein.
Kolozsvári boszorkányperek 1564–1743, S. 127
Klausenburg, am 19. Juni 1584
Das Urteil der Herren Richter wird von den Herrn Senatoren abgeändert, und es wird beschlossen, dass, weil die Angeklagte ihre gegenüber mehreren Personen ausgesprochenen Drohungen durch deren Ausführung und durch die Tat selbst bestätigt hat, und weil sich auch aus der Aussage des früheren Zeugen ergibt, dass sie nachts im Haus derjenigen gesehen wurde, die diese Aussage machte, und da sie außerdem noch viele andere schädliche Zaubereien verübt hat, sie deshalb den Flammen des Feuers übergeben und verbrannt werden soll.
Kolozsvári boszorkányperek 1564–1743, S. 128
Klára, die Ehefrau des Herrn Gáspár Herczegh, sagte aus: Auf dem Markt traf ich die Mutter der Frau Zemetbíróné (Orsolya), die Ehefrau von Sós Jánosné, und sie fragte, ob meine Schwester, die Frau des Ferenc Kőműves, schon ein Kind bekommen habe. Ich antwortete, dass sie noch keines bekommen habe. Ich antwortete, noch nicht. Sie sagte: „Wenn es soweit ist, ruft mich, denn vielleicht werdet ihr es nicht bereuen.“ Als ich sie ein zweites Mal traf, fragte sie wieder. Ich sagte, dass in der Nacht zuvor das Kind geboren worden sei, aber meine Schwester jemand anderen gerufen habe. Darauf sagte sie: „Nun, ihr habt mich nicht gerufen, aber wartet nur ab!“ So war es, dass ich am nächsten Tag zu meiner Schwester ging, und siehe da: In jener Nacht war das Bein ihrer Tochter, die jetzt bei András Viczey ist, gelähmt. [Die Spuren der Finger waren noch auf dem Bein des Mädchens zu sehen.] Außerdem war auch die Milch meiner Schwester, der Ehefrau des Ferenc Kömüves, versiegt. Ich sagte, es müsse das „Antoniusfeuer“ (eine Krankheit) sein, und da ich gehört hatte, dass man so etwas mit einer geweihten Kerze auspusten müsse, tat ich es selbst. In der darauffolgenden Nacht legte ich mich mit meinem Töchterchen zu Hause, wie eine arme Witwe, schlafen, und da kam Orsolya in ihrer Gestalt auf mich zu, packte mich an den Haaren, und plötzlich hing daran ein halbes Ziegenfell, überaus stinkend. Ich sprach sie an, dass sie mir nichts anhaben könne, denn ich kenne sie gut. Auf meine Worte hin trat sie zurück und stützte sich mit dem Hintern gegen den Tisch, so dass der Tisch richtig krachte. Dann kam sie wieder auf mich zu und begann, mir die Decke herunterzuziehen. Ich flehte zu Gott, und so konnte sie mir in keiner Weise schaden, obwohl sie mein Haar niedergedrückt hatte, so dass ich meinen Kopf überhaupt nicht heben konnte. Auch mein Töchterchen sprach mich an und sagte: „Mutter, wie viele Leute gehen hier im Haus umher!“ Ich wies sie an, zu Gott zu beten. Als Orsolya mich zum dritten Mal angriff, schalt ich diese heftig und schrie sie an. Am nächsten Tag befahl ich in meinem Haus, nichts herauszugeben. Und während meiner Abwesenheit kam eine Frau, die sich „Billerné” nannte, und um Essig bat.
Kolozsvári boszorkányperek 1564–1743, S. 119
Quellen:
[1] Prisca Kőmíves, weiberkraft.com
[2] Clara Bochÿ, weiberkraft.com
[3] Hexenprozesse in Rumänien, weiberkraft.com
[4] Rechtsanwälte, Hexen-Verfolger und Profirennfahrer, Deutsche Zeitung für Rumänien
Weiterführende Literatur zu Orsolya Sós:
https://real.mtak.hu/91655/1/PakoL-TothGP-KissA_2014.pdf – ab S. 119
Bild: KI