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Die Geschichte der Zistrose

Aus dem Picatrix

Nacherzählt von Alvisi vom Roten Stein.

Das Picatrix ist ein Grimoire, das sich mit Astrologie, Alchemie und Magie beschäftigt. Das Buch wurde ca. 1055 n. Chr. auf Arabisch als „Ghayat al-Hakim“ verfasst und im 12. Jahrhundert n. Chr. ins Lateinische übersetzt. Berühmt wurde das Buch für seine detaillierten Beschreibungen astrologischer Magie und seine Integration von alchemistischen Prinzipien. Die enthaltenen Rituale und Anweisungen zur Nutzung planetarer Energien und astrologischer Konstellationen haben die westliche Magietradition stark beeinflusst. Neben den praktischen Anleitungen zur astrologischen Magie enthält das Buch auch zahlreiche erzählerische Passagen, die stets eine symbolische oder allegorische Bedeutung in sich tragen. Wie zum Beispiel die Geschichte der Zistrose.

Ein König liebte seine Gemahlin über alle Maßen, war jedoch ebenso über alle Maßen eifersüchtig. In einem Anfall von Wahnsinn befahl er ihre Hinrichtung, obwohl ihr vermeintliches Vergehen lediglich seiner Einbildung entsprang. Für diese grausame Aufgabe wählte er einen seiner treuesten Diener. Doch dieser war von Mitleid so bewegt, dass er die Königin an einem sicheren Ort versteckte.

Als die Tage vergingen und der Wahnsinn des Königs nachließ, begann ihn die Schuld zu quälen. Albträume verfolgten ihn, und er konnte nur noch an die Untat denken, die er an seiner Frau begangen hatte. Um sich von seiner Schuld zu befreien, brachte er im Tempel Jupiters die kostbarsten Opfer dar und ließ die prachtvollsten Hymnen erklingen, in der Hoffnung auf Vergebung. 

Jupiter schien das Flehen des Königs erhört zu haben, denn in der folgenden Nacht erschien er ihm höchstpersönlich und sprach: „Geh zur Zistrose draußen, pflücke einen Zweig, umwickle ihn mit den Blättern der Pflanze und lege ihn vor dem Schlafengehen unter dein Kopfkissen. Dann wirst du die Wahrheit erkennen.“ Der König befolgte die göttliche Anweisung.

In der darauffolgenden Nacht träumte er von der Zistrose, deren Zweige und Blätter er gepflückt hatte. Sie stand inmitten seines Palastes, ihre Blätter schimmerten im sanften Licht des Mondes, und ihre Stimme war ruhig und weise. Die Zistrose sprach: „König, du hast einen großen Fehler begangen. Dein treuester Diener hat dich vor einer großen Torheit und einer schwerwiegenden Verfehlung bewahrt. Geh demütig zu ihm und bitte um Verzeihung, dass du ihn, einen aufrichtigen Mann, für diese Schandtat auserwählt hast. Erkenne deine Schuld und deine Fehlbarkeit an. Du musst zukünftig deine Fantasien im Zaum halten und nicht glauben, dass du alles tun kannst, nur weil du die Macht dazu hast. Hochmut kommt vor dem Fall, nach dem Tod wird Arroganz immer hart bestraft.“ Der König erwachte mit einem Herzen voller Reue und ging sofort zu seinem treuesten Diener, um ihn um Vergebung zu bitten und nach der Königin zu fragen. „Ich habe sie nicht getötet,“ antwortete der Diener, „denn ich wusste, wie sehr mein König seine Gemahlin liebt. Ich dachte, dass ich in deiner Gunst steigen könnte, falls du deine Entscheidung bereuen würdest. Sollte ich mich jedoch geirrt haben und einen Fehler gemacht haben, werde ich meine Strafe akzeptieren.“

Erleichtert und überglücklich antwortete der König: „Du hast meine Gunst, und eine große Belohnung gewonnen! Geh und bring meine Königin zurück zu mir!“ Der Diener fand das Versteck der Königin und brachte sie zum König zurück. Der König bat demütig um Verzeihung. Mit Tränen in den Augen kniete er vor der Königin nieder, flehte um ihre Gnade und versprach, seine Eifersucht nie wieder über die Liebe zu stellen. Er überhäufte sie mit kostbaren Geschenken und ließ ein prachtvolles Fest zu ihren Ehren ausrichten. Tief berührt von seiner Reue konnte die Königin ihm schließlich verzeihen.

Der König, in tiefer Dankbarkeit gegenüber der Zistrose, ehrte sie fortan als den Baum der Liebe. Er ließ im gesamten königlichen Hof Zistrosen pflanzen. Bald folgten alle Bauern, Fürsten, Grafen und Herzöge dieser Geste. Geschichten über ihre magische Liebeskraft wurden erzählt und Ruhmeslieder gesungen. Mit der Zeit verwandelte sich das ganze Königreich in ein Meer aus Zistrosen, die die Luft mit ihrem betörenden Duft erfüllten.

Quellen:
Ghayat al-Hakim in arabisch, archive.org


Bild: KI