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Das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie

von Johann Wolfgang von Goethe

Nacherzählt von Alvisi vom Roten Stein.

In einer Zeit, als es den Weltseelen noch unmöglich war, von der Erde in den Himmel und vom Himmel wieder zurück auf die Erde zu reisen, lebte in einem großen Himmelsschloss eine wunderschöne Prinzessin. Sie war nicht nur von Schönheit gesegnet, sondern sie hatte auch noch alles, was sich das Herz einer Erdenseele nur vorstellen konnte. Kostbare, mit roten Edelsteinen bestickte Kleider zierten ihre zarte Gestalt und goldenes Geschmeide wand sich um ihren eleganten Hals und ihre zarten Handgelenke. Außerhalb des Schlosses erfreute sie sich gemeinsam mit ihren Gespielinnen an den wohlriechendsten Rosen und den schönsten Lilien, und im Inneren des Schlosses musizierte sie, begleitet von ihrem kleinen singenden Kanarienvogel, die zauberhaftesten Melodien auf ihrer goldenen Harfe. Aber auch, wenn sie alles besaß, was man sich nur wünschen konnte, war sie überaus traurig. Die Himmelsprinzessin war einsam. Sie durfte ihren Dienern, Gespielinnen, ja nicht einmal ihrem Kanarienvogel, jemals zu nahe kommen, denn alles Lebende starb in dem Moment, in dem ihre Hand den Unglücklichen auch nur für den Bruchteil einer Sekunde berührte. Nichts wünschte sich die Himmelsprinzessin sehnlicher, als von diesem, ihrem traurigen Schicksal erlöst zu werden.

Die Erlösung, die sich die Prinzessin so sehr wünschte, schien jedoch in weiter Ferne. Dass sich die Prophezeiungen, die sich die Alten immer erzählten, tatsächlich erfüllen würden, getraute sie sich nicht zu hoffen. Und doch gab es sie, die Weissagungen über ihre Erlösung. So sagten die Alten, dass der Tag schon bald kommen werde. Dass die Erlösung nah sei. Der Tag, an dem eine feste Verbindungsbrücke geschlagen werde, die hunderten, ja tausenden Menschen- und Tierseelen erlauben werde, auf einfachem Wege von der Erde in den Himmel und vom Himmel auf die Erde überzusetzen. Zur selben Zeit sollte ein goldener Tempel an der Grenze zwischen Himmel und Erde erbaut werden. So dies geschehe, würde die Himmelsprinzessin erlöst.

Auch die schöne smaragdgrüne Schlange wusste von dieser Weissagung und wartete schon sehnsüchtig auf die Erlösung der Himmelsprinzessin. Als das einzige Tier, welches sich sowohl im Himmel als auch auf Erden beliebig aufhalten konnte, machte sie sich täglich zur Mittagszeit auf, um mit ihren Körper einen Bogen über die Grenze zwischen Himmel und Erde zu schlagen, den die Seelen als Brücke nutzen konnten, um ins Himmelreich zu gelangen.

Eines Mittags schritt der schöne Erdenprinz über die Brücke, um der Himmelsprinzessin seine Liebe zu gestehen. Er hatte lange nach ihr gesucht und viele Strapazen auf sich genommen, um zu ihr zu gelangen. Endlich erblickte er sie, wie sie gerade dabei war, auf ihrer Harfe zu musizieren. Der Prinz nahm all seinen Mut zusammen und ging fest entschlossenen Schrittes auf seine Angebetete zu, um ihr seine Liebe zu gestehen. Dabei kam er jedoch der Prinzessin gefährlich nahe, woraufhin sie versuchte, ihn mit einer abwehrenden Geste vor einem Unglück zu bewahren. Aber es war zu spät. Der Prinz berührte ihre Hand und sackte daraufhin tot zusammen. 

Die Schlange, die das Ungeschick mit angesehen hatte, schlängelte schnellen Schwanzes herbei und schlang mit ihrem glänzend grünen Körper einen Kreis um den toten Prinzen. Um den Kreis nur ja nicht zu unterbrechen, biss sie sich mit ihren giftigen Zähnen in ihren eigenen Schwanz. Nur auf diese Weise konnte sie verhindern, dass sich die Seele des Prinzen zu weit von seinem Körper entfernte. „Holt schnell das Licht herbei“, rief die in Tränen aufgelöste Schöne ihren Dienerinnen zu, „vielleicht besteht noch Hoffnung für meinen Geliebten.“ Das Licht hatte jedoch schon längst die Nachricht vom Tod des Prinzen erhalten und war flugs über die Grenze zwischen Himmel und Erde zur Prinzessin geeilt. „Es gibt“, sagte das Licht sichtbar betrübt, „nur einen Weg, um das Leben des Prinzen zu retten. Eine andere Seele muss seiner statt den auf Zeit geliehenen Erdenkörper verlassen.“

Es gab im Himmelreich nur ein einziges Lebewesen, das einen Erdenkörper besaß. Und das war die smaragdgrüne Schlange. „Ich opfere mich!“ rief sie ohne zu Zögern aus, sprachs, und biss sich darauf sofort wieder in den Schwanz, um die Seele des Prinzen nicht zu verlieren. Da wandte sich das Licht an die Prinzessin. Sie kniete sich nieder, bedankte sich bei der Schlange und berührte mit der einen Hand ihre warme, grün schimmernde Haut, während sie mit der anderen die Hand ihres Geliebten ergriff. Da zersprang die Schlange in tausend leuchtende Funken, die wie ein Feuerwerk gen Himmel schossen. Im selben Moment öffnete der Prinz die Augen. Die Prinzessin entfernte sich schnell von ihm, um ein weiteres Unglück durch ihre todbringende Hand zu verhindern.

Inzwischen war es dunkel geworden. Die smaragdgrünen Feuerfunken hatten sich in glitzernde gelbe Sterne verwandelt und erleuchteten den Nachthimmel. Der Prinz nutzte die Stille, die in diesem Moment zu herrschen schien, um sich zu sammeln. Die Prinzessin saß in einiger Entfernung im Gras und blickte dankbar in den Himmel. Der Mond war aufgegangen und schenkte der Erde sein strahlendstes Lächeln. Sein Licht konnte man bis in den Himmel sehen. „Es ist soweit! Deine Erlösung ist nah! Die Weissagung erfüllt sich!“ Das Licht kreiste einige Male um das Paar herum und wies sie an, ihm auf seinem Weg zu folgen.

An der Grenze zwischen Himmel und Erde angekommen führte sie das Licht unzählige Stufen hinab in die Erde und durch einen dunklen Gang in einen großen Saal. Das Licht erhellte den Saal, und die beiden erblickten einen weiteren Saal, der ganz aus Stein gehauen schien, und in dem sich drei Bildnisse befanden. Das erste, das sie erblickten, war das Bildnis eines Königs mit einer Eichenkrone auf dem Haupte. Es bestand aus purem Gold. Gleich daneben stand das Bildnis eines weiteren Königs. Dieser war aus purem Silber gefertigt und trug einen Gürtel um die Hüften und ein Zepter in der Hand. Das dritte Bildnis bestand aus Erz. Diesem dritten König zu Füßen steckte in einer ehernen Scheide ein mit Gold und Silber reich verziertes Schwert in einer ehernen Scheide. Es trug auf seinem Knauf das Zeichen der kreisrunden Schlange. 

„Drei sind, die da herrschen auf Erden.“ Die Worte des Lichts erfüllten den steinernen Saal, sie prallten wie Geschosse von den Felswänden ab, um sich über den gesamten Raum zu verteilen. Der Saal erstrahlte in hellem Licht und ließ die drei Könige noch lichtvoller erscheinen als zuvor.

„Es sind die Weisheit, der Schein und die Gewalt.“

Beim ersten Wort erhob sich der goldene König und überreichte dem Prinzen seine Eichenkrone. Beim zweiten erhob sich der silberne, der ihm seinen Gürtel und sein Zepter übergab. Beim dritten Wort stellte sich der eherne König langsam auf seine schweren ehernen Füße, deutete auf das Schwert, und der Prinz zog das Schlangenschwert zu dessen Füßen aus der ehernen Scheide. Der neue König wurde von tausenden Lichtstrahlen ergriffen, und während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, fielen die drei Bildnisse in sich zusammen. Währenddessen sprach das Licht weiter:

„Die Liebe hingegen beherrscht die Welt nicht. Aber sie erschafft sie.“

Mit diesen Worten verdunkelte sich der Saal, und es fing im Untergrund des Gewölbes an, ohrenbetäubend zu donnern und zu grollen, Stein und Balken brachen, und der gesamte Saal schien in sich zusammenzubrechen. Es rumorte in einer Weise unter der Erde, als dass man glauben konnte, ein riesiger Vulkan stünde kurz davor, Feuer zu speien. Es vergingen Minuten, bis aus dem lauten Ächzen und Quietschen ein Rattern und Rauschen wurde. Je leiser es wurde, desto heller wurde es wieder im Saal. Und dann war es still. Für einige Sekunden war es so still, als wäre die Welt unter Poltern, Schreien und Stöhnen untergegangen.

Der Tag war angebrochen. Die Sonne schickte die ersten Strahlen des Tages in Richtung Erde. Die Vögel zwitscherten, und die Grenze zwischen Himmel und Erde rauschte zufrieden. Als die drei endlich aus dem Saal traten, standen sie an der Grenze zu Himmel und Erde. Der Saal erwies sich von außen als der schönste und größte goldene Tempel, den die Welt jemals gesehen hat. Wie überrascht war die Himmelsprinzessin jedoch, als sie eine feste Brücke sah, die Himmel und Erde miteinander verband! Zahlreiche Menschen- und Tierseelen wanderten vom Diesseits ins Jenseits, und vom Jenseits wieder zurück ins Diesseits. Jeder nach seinem eigenen Tempo, jeder zu seiner eigenen Zeit. 

Das Licht führte die beiden wieder zu einer Treppe. Dieses Mal jedoch führte sie nicht hinab. Es ging die Himmelstreppe hinauf. Ganz oben stand ein mit duftenden Rosen und prunkvollen Lilien festlich geschmückter Altar. In der Mitte des Altars lagen zwei Ringe in Form der kreisrunden Schlange. Alles stand für die Vermählung von Himmel und Erde bereit. 

Die Prinzessin war erlöst und konnte ihren Prinzen endlich zum ersten Mal küssen. Zu verdanken hatten sie dies der Schlange, die ihr Leben gab, damit sich Himmel und Erde verbinden konnten, um durch ihre Liebe zueinander eine neue, bessere Welt zu erschaffen. Seither gedenkt man der Schlange und zeichnet sie in jener Kreisform, in welcher sie sich um den toten Erdenkönig gewunden hatte, um ihn wiederauferstehen zu lassen. 


Bild: KI