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Die Heidnische Gegenreformation

Oder: Der letzte heidnische Kaiser


Bis weit in die Mitte des 4. Jahrhundert n. Chr. beteten die Römerinnen und Römer zu einer Vielzahl von Göttern aus ihrem polytheistischen Pantheon und gestalteten ihr Leben im Geiste der griechischen Philosophie. Ab der Mitte des 4. Jahrhunderts vollzogen sich die Veränderungen Schlag auf Schlag: Die einstige religiöse Vielfalt wurde zunehmend durch ein staatlich gefördertes Christentum verdrängt, die heidnischen Kulte verloren an Schutz, und die traditionellen Grundlagen der römischen Kultur wurden unter Strafe verboten. Im Jahr 380 n. Chr. wurde das Christentum durch zur alleinigen Staatsreligion des Römischen Reiches erklärt. Mitten in diese unruhige Zeit, die geprägt war von politischen Wirren, Machtkämpfen und einem raschen Wechsel der Staatsoberhäupter, trat ein außergewöhnlicher Mann auf den Plan: ein Kaiser, der versuchte, das Heidentum ein letztes Mal gegen die erstarkende christliche Ordnung zu behaupten. Flavius Claudius Iulianus, Kaiser Julius, leitete eine heidnische Gegenreformation ein – doch sein Vorhaben scheiterte.

Die römischen Frauen und Männer lebten in einer Welt, die ihnen vertraut, geordnet und reich erschien – ein Leben im Wohlstand, getragen von kultureller Blüte und nationalem Selbstbewusstsein. Doch hinter der glänzenden Fassade begann die Blüte des Reiches allmählich zu welken – politische Instabilität, wirtschaftliche Spannungen und äußere Bedrohungen warfen erste, wenn auch noch kaum sichtbare Schatten auf das scheinbar unerschütterliche Gefüge. Die Bildungsschicht schrieb noch immer Poesie in griechischer Sprache, die seit Jahrhunderten als Zeichen intellektueller und Überlegenheit galt und untrennbar mit dem Ideal höherer Bildung verbunden war. Noch immer sahen sich die Römerinnen und Römer als Schöngeister – als Menschen, die Kunst und kulturelle Ausdrucksformen als Bestandteile eines erfüllten Lebens betrachteten. Eine hochentwickelte Kultur, die die Literatur und die Bildenden Künste als Spiegel des Weltverstehens, als Träger moralischer Lehren und als Quelle ästhetischer Erhebung begriff.

Nach wie vor pflegte die römische Bevölkerung ihre Vorliebe für prachtvolle Architektur – in Tempeln, Thermen, Theatern, Foren und auf öffentlichen Plätzen, die kunstvoll gearbeitet waren. Überall begegnete man reich geschmückten Götterstatuen, eleganten Säulenreihen, aufwendigen Mosaiken und leuchtenden Wandmalereien, die öffentlichen wie privaten Räumen eine reiche visuelle Pracht verliehen. Ihr Sinn für Ästhetik verband sich an diesen öffentlichen Orten mit Ordnung, Disziplin und einem starken Rechtsverständnis – Werten, die im Zentrum der römischen Kultur standen.

Moralisch aufgeladene Fabeln statt religiöser Gesetze

Die Philosophie diente als praktische Lebenslehre, als geistige Schulung und innere Disziplin – ein Weg, sich selbst zu formen, das eigene Handeln zu reflektieren und dem Leben einen ethischen Rahmen zu geben. Für manche wurde sie sogar wichtiger als Religion. Ihr religiöses Weltbild speiste sich aus literarischen Überlieferungen. Die Geschichten über ihre Götter und mythischen Vorfahren fanden sich in Werken großer Dichter und Denker wie Homer, Hesiod, Ovid oder Vergil. Diese Erzählungen waren keine göttlich offenbarten Wahrheiten, sondern poetische und symbolische Deutungen menschlicher und göttlicher Wirklichkeit. In ihnen begegneten sich Götter und Menschen, Tugend und Verfehlung auf erzählerischer Ebene. Diese Erzählungen wurden nicht als heilige Schriften verstanden, sondern als kulturelles Erbe, das Orientierung bot, jedoch keinen verbindlichen Lebenscodex darstellte. In der römischen Vorstellungswelt musste man sich diesen Mythen nicht im Sinne eines verbindlichen Glaubenssystems unterwerfen. Vielmehr waren es Erzählungen, die frei interpretiert werden konnten, die lehrreich, unterhaltsam oder warnend wirkten. Oft hatten sie einen moralischen Gehalt, dienten als Gleichnisse oder als Spiegelbilder menschlicher Erfahrungen. Ihre Bedeutung lag in der Vermittlung kultureller Werte, nicht in der Vorschrift religiöser Dogmen. Es handelte sich um überlieferte Sinnbilder einer Weltauffassung und nicht um Gesetze. In ihren Fabeln und Geschichten bewahrten sie das, was sie für bewahrenswert hielten: das kulturelle Gedächtnis ihrer Welt. Dennoch war ihr Götterkult nicht bloße Symbolik: Auch, wenn er nicht schriftlich-dogmatisch war wie später das Christentum, war er dennoch staatlich geregelt und wurde als verbindliche religiöse Praxis verstanden. Öffentliche Rituale, Opferhandlungen und die Pflege der Tempel galten als Grundlage für die pax deorum – den göttlichen Frieden, der das Wohl des Staates sichern sollte. Ausdruck dieser religiös-politischen Verflechtung war der Altar der Siegesgöttin Victoria im römischen Senatsgebäude, der Curia Julia, das sich im Herzen des Forum Romanum befand. Vor jeder Sitzung wurde dort Weihrauch als rituelles Opfer verbrannt – als Zeichen der Ehrfurcht, als Ausdruck staatsbürgerlicher Frömmigkeit und zur Bekräftigung jener göttlichen Ordnung, in deren Schutz die res publica stand.

Tanz, Theater und Gesang im Einklang mit Opfern und Orakelgang

Ihre Praktiken waren gemeinschaftlicher Natur. Im Mittelpunkt ihres religiösen Handelns standen rituelle Opfer, durch die sie mit der göttlichen Welt in Beziehung traten. Tiere, Wein, Getreide, Opferbrot, Blumen oder duftender Weihrauch wurden den Göttern dargebracht – als Bitte um Schutz, Heil und Beistand oder als Zeichen des Dankes für empfangene Wohltaten. Sowohl Privatleute als auch der Staat führten diese Rituale durch – vor allem bei wichtigen Anlässen wie Krisen, Kriegen, Amtseinführungen oder Naturereignissen. Eine bedeutende Rolle spielten auch die Orakelstätten. Man konsultierte sie, wenn wichtige Entscheidungen bevorstanden. Man befragte die Götter durch Priester, Wahrsager oder durch die Deutung von Naturzeichen (auguria und auspicia), etwa dem Flug der Vögel oder dem Zustand von Opfertieren. Der Wille der Götter wurde auf diese Weise „gelesen“.

Die Christen bekamen die Religionsfreiheit – aber das war ihnen nicht genug

In Rom schien die Welt noch in geordneten Bahnen zu verlaufen – selbst als im Jahr 313 n. Chr. die Kaiser Konstantin der Große und Licinius mit dem Toleranzedikt von Mailand die Religionsfreiheit im Römischen Reich einführten. Der traditionelle Götterglaube bestand fort, und viele sahen in der neuen Freiheit lediglich eine Ausweitung bestehender Toleranz, nicht aber eine Bedrohung ihrer überlieferten Weltordnung. Für die Kaiser war jedoch mitnichten ein humanistisches Ideal ausschlaggebend, vielmehr wollten sie damit die politische Stabilität im Reich sichern. Nach Jahrzehnten innerer Wirren, Bürgerkriege und religiöser Konflikte war das Reich erschöpft. Konstantin und Licinius erkannten, dass eine Politik der Duldung und Integration dem Frieden zuträglicher war als weitere Repression. Die Christen stellten bereits eine wachsende, gut organisierte und überregional vernetzte Gemeinschaft dar, deren Loyalität sie sich sichern wollten. Für die Christen war dies ein entscheidender Wendepunkt: Nach der brutalen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian war das Christentum endlich gleichberechtigt. Nun konnten sie öffentlich auftreten, Kirchen bauen, Eigentum zurückfordern und sich organisieren. Das Toleranzedikt von Mailand galt formal für das gesamte Römische Reich – und damit auch für die Gebiete des heutigen Deutschland und Österreich, die damals größtenteils unter römischer Kontrolle standen. In diesen Regionen jedoch war im 4. Jahrhundert das Christentum noch kaum verbreitet. Daher hatte das Edikt dort nur geringe praktische Auswirkungen und veränderte das religiöse Leben vor Ort kaum.

Opfer und Orakel werden verboten

Nach dem Tod Konstantins des Großen kam es zu einer Phase innerfamiliärer Spannungen und Machtkämpfe unter seinen drei Söhnen, die zunächst gemeinsam das Reich regierten. Diese brüchige Mehrherrschaft war von Misstrauen und Rivalität geprägt und endete in blutigen Auseinandersetzungen. Schließlich setzte sich Constantius II. durch und wurde zum alleinigen Kaiser – der letzte überlebende Sohn Konstantins und nun unumschränkter Herrscher über das gesamte Römische Reich. Constantius II. war selbst überzeugter Christ. Unter seiner Herrschaft verschärfte sich die Politik gegenüber dem Heidentum drastisch. Die Maßnahmen folgten Schlag auf Schlag, nahezu jährlich wurden neue Verbote erlassen: Heidnische Opferhandlungen wurden 353 n. Chr. per Todesstrafe verboten, heidnische Tempel ab 356 n. Chr. geschlossen. Manche verfielen aber auch einfach schrittweise, da der Staat ihnen keine finanzielle Unterstützung mehr gewährte. Orakelpraktiken und Wahrsagerei wurden ab 357 n. Chr. unter Strafe gestellt – das galt vor allem dann, wenn sie im Verdacht standen, politische Aussagen zu liefern.

Der römische Kult war über sieben Jahrhunderte hinweg selbstverständlicher Teil des Alltags gewesen: Geburt, Ehe, Ernte und Tod von rund 27 Generationen wurde durch Opferhandlungen begleitet. Die Götter waren schon bei den Urururgroßeltern Teil des Lebens gewesen – nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern in jeder Familie, in jedem Haus, an jeder Straßenecke. Die Schließung von Tempeln, der Abbau von Altären und das Verbot von Opfern bedeutete für viele Menschen daher einen herben Verlust von Sicherheit. Denn die Rituale hatten nicht nur göttlichen Beistand verheißen, sie waren identitätsstiftend – sie waren das, was die Römer waren. Bei vielen stellte sich daraufhin ein Gefühl der Verunsicherung und Angst ein: Was galt jetzt noch? Was durfte man glauben, sagen, praktizieren? Und was war gefährlich geworden? Gerade die Repression von Orakeln und Wahrsagern traf einen Bereich, der vielen Menschen in Zeiten von Unsicherheit Halt gegeben hatte.

Die Zeit unter Constantius II. war ein Epochenbruch, der das Weltbild erschütterte. Der Verlust der traditionellen Kulte wurde von der Bevölkerung als Eingriff in das tiefste Gefüge des eigenen Lebens erlebt. 400 Jahre lang stand im Senatsgebäude im Forum Romanum, dem Gebäude, in dem die Römer ihre Ratssitzungen abhielten, der berühmte Altar der Victoria. Dieser Altar stammte aus der Zeit Augusts und war lange Symbol für den göttlichen Rückhalt des römischen Staates gewesen. Senatoren opferten dort regelmäßig Weihrauch, brachten Gebete dar und leisteten ein feierliches Gelöbnis, in dem sie versprachen, den Wohlerhalt Roms und des Kaisers zu fördern – ein ritualisierte Bindung, bevor die Sitzung begann. Im Jahr 357 n. Chr. gab Constantius II jedoch den Befehl zu dessen Entfernung. Die Maßnahme stieß auf starken Widerstand in der Senatsnoblesse. Der führende heidnische Senator Quintus Aurelius Symmachus wandte sich an Constantius mit leidenschaftlichen Appellen zur Wiederaufstellung des Altars. Er argumentierte, dass das Weiterbestehen des römischen Reiches von der Pflege alter Traditionen abhänge. In seinen Schriften lässt sich bis heute die starke emotionale Verbundenheit mit dem heidnischen Kult erkennen. Auf der Gegenseite formierten sich jedoch christliche Senatoren, die feststellten, dass ein christlicher Kaiser keine heidnischen Altäre dulden könne – sie betrachteten den Altar als Symbol falscher Götter und als Gefahr für den einzig richtigen Glauben.

Christen zerstören Tempel und denunzieren Heiden

Der Druck auf Heiden entwickelte sich unter Constantius II. von reinen Verbotsgesetzen hin zu realer Gewalt. Die Übergänge zwischen religiöser Überzeugung, öffentlichem Aktivismus und persönlicher Rachsucht waren fließend. In dieser Atmosphäre wuchs ein gefährlicher Mechanismus: Gesetze lieferten die Grundlage, und die gesellschaftliche Dynamik trug zur repressiven Realität bei. Fanatische Christen, die sogenannten Parabolani(3), nahmen die Verbotsgesetze zum Anlass, um Tempel zu stürmen und zu zerstören, heidnische Kultstätten zu entweihen, heilige Statuen zu zerschlagen, Bücher mit religiösen und philosophischen Inhalten zu verbrennen und verbliebene Anhänger der alten Religion öffentlich anzuprangern oder zu denunzieren. Angetrieben von religiösem Eifer und dem Gefühl, im Einklang mit der kaiserlichen Politik zu handeln, setzten sie besonders in Städten wie Alexandria, Rom und Konstantinopel die theoretischen Verbote mit tätlicher Gewalt um – oft ohne dass staatliche Stellen eingriffen, manchmal sogar mit stillschweigender Billigung.

Der neue rechtliche Rahmen legitimierte religiöse Feindseligkeit und entfaltete in der Praxis eine Kultur der Denunziation und Einschüchterung, unter der besonders überzeugte Heiden litten. Wer weiterhin Opfer darbrachte, Orakel befragte oder in irgendeiner Weise mit „magischen“ oder sogenannten „götzendienstlichen“ Handlungen in Verbindung gebracht wurde, lief Gefahr, Ziel christlicher Angriffe zu werden. Die Spannbreite der Reaktionen reichte von Denunziation bis hin zu tätlichen Übergriffen und Tötungen. Die Parabolani traten dabei äußerst aggressiv und gewalttätig auf, eine ursprünglich als karitative Bruderschaft gegründete Gruppe, deren Mitglieder sich bald durch fanatischen Eifer und gewaltsames Vorgehen gegen Andersgläubige hervortaten. Ihre „Erfolge“ führten schließlich dazu, dass sie ab dem 5. Jahrhundert von der Kirche als eine Art Schutztruppe für den örtlichen Bischof eingesetzt wurden. In einem Klima wachsender Intoleranz konnte bereits ein Gerücht oder eine bloße Andeutung ausreichen, um einen Heiden in existenzielle Gefahr zu bringen. Ein besonders erschütterndes Beispiel dafür ist das Schicksal der Philosophin Hypatia von Alexandria. Sie wurde, Opfer eines religiös-politisch motivierten Gerüchts, von den Parabolani in eine Kirche verschleppt, dort entkleidet und mit Tonscherben ermordet. Anschließend wurden ihre Überreste verbrannt. Besonders gefährlich war die Beschuldigung der Wahrsagerei, denn diese wurde – auch durch gesetzliche Regelungen – politisch aufgeladen: Wer etwa durch Orakel den künftigen Kaiser zu ermitteln versuchte, konnte wegen Hochverrats verurteilt werden. Die Ankläger waren nicht selten christliche Bischöfe.

Der Heide Julian kommt an die Macht

In dieser aufgeladenen und zunehmend christlich dominierten Atmosphäre unternahm Kaiser Julian (Flavius Claudius Iulianus), ein Neffe Konstantins, einen letzten Versuch, das heidnisch-polytheistische Weltbild im Römischen Reich wiederzubeleben. Julian, wurde zwar christlich erzogen, wandte sich jedoch in seinem Studium den alten Religionen zu. Besonders wichtig war ihm die philosophische Tiefe des Heidentums, wie sie etwa im Neuplatonismus vertreten wurde. Heimlich trat er zum heidnischen Polytheismus über. Nach dem Tod von Konstantins Sohn Constantius II. wurde er im Jahr 361 Alleinherrscher. Julian verstand seine Politik als bewussten Gegenentwurf zur sich verfestigenden christlichen Staatsreligion und wollte den alten Götterkulten neues Ansehen und institutionelle Struktur verleihen. Doch Julians Regierungszeit währte zu kurz, um dem alten Glauben wieder eine tragfähige Grundlage zu verschaffen. Er blieb der letzte römische Kaiser, der sich mit Überzeugung zum heidnischen Götterglauben bekannte.

Kurz nach seinem Amtsantritt schrieb Julian Contra Galilaeos(1) („Gegen die Galiläer“), eine religionsphilosophische Streitschrift, in der er das Christentum kritisierte und den Polytheismus als rational überlegen darstellte.

„Erstens, dass Gott nicht wusste, dass die als Gehilfin geschaffene Frau den Fall verursachen würde; zweitens, dass er den Menschen das Wissen um Gut und Böse verweigerte – ein Wissen, das allein dem menschlichen Denken Kohärenz verleiht; und schließlich, dass er aus Eifersucht nicht wollte, dass der Mensch unsterblich werde, indem er auch vom Baum des Lebens esse – all das zeugt von einem übertrieben missgünstigen und neidischen Gott.“
Contra Galilaeos, Flavius Claudius Iulianus, ca. 361 n. Chr.

In seiner Regierungszeit ließ Julian heidnische Tempel wieder öffnen, Opferkulte erneuern und heilige Stätten restaurieren. Er legte großen Wert auf moralisch und rituell einwandfreie heidnische Priester und versuchte, die Organisation des Heidentums nach dem Vorbild der christlichen Kirche zu strukturieren – mit moralischer Selbstdisziplin, karitativer Tätigkeit und klarer Hierarchie. Er schloss Christen weitgehend aus öffentlichen Ämtern und der Bildung aus. Lehrern wurde es unter seiner Regierung untersagt, klassische Literatur (wie Homer oder Platon) zu unterrichten – da sie ohnehin nicht an die „heidnische Wahrheit“ glaubten, sollten sie sie auch nicht unterrichten dürfen.

„Wenn euch das Lesen eurer eigenen Schriften genügt – warum bedient ihr euch dann unserer hellenischen Bildung? […] Aus dem Studium eurer Schriften wird kein Mensch tugendhaft – ja nicht einmal durchschnittlich gut.“
Contra Galilaeos, Flavius Claudius Iulianus, ca. 361 n. Chr.

Julian ließ den Altar der Siegesgöttin Victoria wieder in der Curia Julia aufstellen. Dies war jedoch noch nicht sein provokantester Akt. Der bestand in dem Versuch, den jüdischen Tempel in Jerusalem – den einstigen Tempel Salomos, der im Jahr 70 n. Chr. von den Römern zerstört worden war – wiederaufbauen zu lassen. Dieses Vorhaben war ein politisch höchst brisanter Schritt, der weit über die bloße Förderung religiöser Vielfalt hinausging. Viele Zeitgenossen deuteten es als offenen Affront gegenüber den Christen, das den zerstörten Tempel symbolisch als überwunden ansah und dessen Wiedererrichtung als Infragestellung seiner eigenen Heilsbotschaft betrachtete. Doch der Wiederaufbau scheiterte – laut christlichen Quellen (in denen er als Julian der Abtrünnige betitelt wird) durch ein plötzliches Erdbeben oder eine mysteriöse Feuererscheinungen auf der Baustelle. Wissenschaftliche Quellen sehen hingegen politische Gründe als wahrscheinlicher an.

Julians Ende ist auch das der Heidnischen Gegenreformation

Kaiser Julian starb 363 n. Chr., zwei Jahre nach seinem Amtsantritt, auf einem Feldzug im heutigen Iran – unter bis heute ungeklärten Umständen. Manche Quellen vermuten einen Mord durch einen fanatischen Christen. Mit seinem Tod endete die heidnische Gegenreformation schlagartig. Seine Nachfolger kehrten sofort zur prochristlichen Linie zurück. Die heidnische Bewegung war zu schwach institutionalisiert, um ohne politische Unterstützung zu überleben.

Julian gilt heute in neuheidnischen Kreisen als tragische, fast romantische Figur – ein spätantiker Philosoph auf dem Kaiserthron, der versuchte, mit geistiger Tiefe, rituellem Ernst und moralischem Idealismus die alte Religion gegen die aufkommende kirchliche Macht zu verteidigen. Für die Christen hingegen gilt er – „Julian der Abtrünnige“ – bis zum heutigen Tag als gefährlicher Irrlehrer, als Widersacher der göttlichen Wahrheit und Feind des wahren Glaubens. Sein Scheitern markiert den endgültigen Beginn der christlich geprägten Spätantike, in der das Heidentum ihren rechtlichen Schutz verlor.

Damit verschob sich das geistige Fundament des öffentlichen und kulturellen Lebens radikal: Der Altar der Siegesgöttin Victoria wurde endgültig aus dem Forum Romanum entfernt. Die jahrhundertealte griechisch-heidnische Bildungstradition geriet unter Rechtfertigungsdruck, philosophische Schulen wurden eingeschränkt und durch theologische Denksysteme ersetzt, Schulen und Akademien gemeinsam mit den Tempeln geschlossen, und die antiken Götter verschwanden zunehmend aus der Öffentlichkeit. Ihre Darstellungen wurden durch christliche Symbole, Jesus am Kreuz und andere religiöse Motive ersetzt. Die Literatur erfuhr ebenfalls eine Umprägung. Werke heidnischer Autoren wie Homer oder Euripides wurden zwar weiterhin gelesen und sogar in christlichen Schulen unterrichtet, aber zunehmend mit christlichen Deutungsmustern versehen oder kritisch hinterfragt. Neue christliche Textgattungen wie Heiligenviten, theologische Traktate, Predigten oder Bibelkommentare entstanden. Die literarische Produktion richtete sich nun auf den moralischen Lebenswandel aus, nicht mehr auf das epische Heldentum oder das tragische Schicksal. Es war der Beginn der Vorherrschaft der Christen, die in Europa über ein Jahrtausend anhielt und die Kultur und Politik des Reiches tiefgreifend veränderte.

Weiterführende Literatur:
(1) Contra Galilaeos, deutsche Übersetzung, weiberkraft.com
(2) Christianity and paganism, wikipedia
(3) Parabolani, wikipedia

The works of the Emperor Julian, Schriften von Kaiser Julian, griechisches Original und englische Übersetzung, archive.org
On the Gods and the World, ein Manifest für das Heidentum, Schriften des heidnischen Berater Julians, Saturninius Secundus Salutius, wikisource
The later Roman Empire: (A.D. 354 – 378), proheidnische Schriften des römischen Soldaten Ammianus, der unter Julian diente, archive.org
Selected Works of Libanius, Schriften von Julians Lehrer, archive.org
Two Orations of the Emperor Julian, One to the Sovereign Sun and the other to the Mother of the Gods, sacred-texts.com
The Chaldæan Oracles of Zoroaster, Originaltexte von Julian, mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Handhabung antiker Magie, sacred-texts.com
The Death of the Gods by Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky, eine Novelle über das Leben des Kaisers Julian.
http://www.juliansociety.org – Die Julianische Gesellschaft, USA


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