Deutsche Übersetzung der Homilie 29 zum 1. Korintherbrief, Predigt gehalten von Johannes Chrysostomos, 4. Jahrhundert n. Chr.
1.
Korinther 12,1–2
„Was aber die geistlichen Gaben betrifft, Brüder, so will ich nicht, dass ihr ohne Kenntnis seid. Ihr wisst: Als ihr Heiden wart, zog es euch unwiderstehlich zu den dummen Götzen hin.“
Das ist sehr schwer verständlich – aber die Unklarheit rührt daher, dass wir mit den gemeinten Tatsachen nicht mehr vertraut sind, weil sie aufgehört haben; es handelt sich um Vorgänge, die damals geschahen, heute aber nicht mehr vorkommen. Doch warum geschehen sie heute nicht mehr? Seht: Die Ursache der Unklarheit wirft sofort eine weitere Frage auf – nämlich: Warum geschahen sie damals, und heute nicht mehr?
Doch lassen wir diese Frage für einen anderen Zeitpunkt. Vorerst wollen wir festhalten, was damals geschah. Was also geschah damals? Wer auch immer getauft wurde, begann sogleich in anderen Sprachen zu reden – und nicht nur das: viele prophezeiten auch, und manche vollbrachten andere wunderbare Taten. Denn da sie von den Götzen zum Glauben übertraten, empfingen sie – ohne tieferes Wissen oder Schulung in den Heiligen Schriften – gleich bei der Taufe den Heiligen Geist. Doch da sie den Geist nicht sehen konnten – denn er ist unsichtbar – schenkte Gottes Gnade ihnen ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen seiner Kraft.
Und so sprach einer sogleich Persisch, ein anderer Römisch, ein dritter Indisch oder in einer anderen Sprache – und dies war für die Außenstehenden der Beweis, dass es tatsächlich der Heilige Geist war, der in der sprechenden Person wirkte. Darum nennt Paulus es auch so: „Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes zum Nutzen gegeben“ (1 Kor 12,7) – womit er die Gnadengaben als Offenbarung des Geistes bezeichnet.
Denn so wie die Apostel selbst zuerst dieses Zeichen empfingen, so empfingen es später auch die Gläubigen – ich meine die Gabe der Sprachen. Doch sie erhielten nicht nur diese Gabe, sondern viele andere: Manche erweckten Tote zum Leben, trieben Dämonen aus und vollbrachten viele andere Wunder. Manche erhielten größere, andere geringere Gaben. Am meisten verbreitet unter ihnen war jedoch die Gabe der Sprachen – und gerade diese wurde zum Anlass für Spaltungen. Nicht aufgrund ihres Wesens, sondern wegen der Verirrung derer, die sie empfangen hatten: Die einen, die größere Gaben hatten, blickten herab auf die mit geringeren, und diese wiederum waren verletzt und neideten den anderen ihre größeren Gaben. Paulus selbst deutet im weiteren Verlauf seines Briefes an, dass dies so war.
Da also von hier aus (Anm.: gemeint ist der Missbrauch der Geistesgaben) ihre Liebe einen tödlichen Schlag erlitt, bemüht sich Paulus besonders darum, diesen Zustand zu korrigieren. Denn ein ähnliches Problem trat auch in Rom auf, jedoch nicht in derselben Ausprägung. Deshalb spricht er im Römerbrief dieses Thema zwar an, aber nur kurz und eher verdeckt. Dort sagt er: „Denn gleichwie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe erfüllen, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder voneinander. Wir haben verschiedene Gnadengaben nach der uns verliehenen Gnade: Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Maß des Glaubens entsprechend aus. Hat jemand einen Dienst, so diene er. Wer lehrt, der widme sich der Lehre.“ (Römer 12,4–8)
Dass auch die Römer in eine Haltung des Übermuts verfielen, lässt Paulus gleich zu Beginn erkennen, wenn er schreibt: „Denn ich sage kraft der Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch: Niemand soll mehr von sich halten, als sich gebührt, sondern er soll maßvoll von sich denken, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat.“ (Römer 12,3)
Mit diesen Worten sprach er zu ihnen, da der „Krankheitszustand“ der Spaltung und des Stolzes dort noch nicht weit fortgeschritten war. Doch hier – also bei den Korinthern – äußert er sich mit großer Eindringlichkeit, denn das Übel hatte sich bereits stark ausgebreitet.
Und das war nicht das einzige, was sie (Anm.: die Korinther) beunruhigte: In der Stadt (Anm.: gemeint ist Korinth) gab es auch zahlreiche Wahrsager, da die Bevölkerung besonders stark griechischen Bräuchen zugewandt war. Auch dies führte zu Verwirrung und Anstoß unter den Gläubigen. Deshalb beginnt Paulus, indem er zuerst den Unterschied zwischen Wahrsagerei und Prophetie darlegt. Aus diesem Grund wurde ihnen auch die Gabe der Unterscheidung der Geister gegeben – damit sie erkennen konnten, wer aus einem reinem Geist sprach und wer aus einem unreinen.
Denn da es nicht möglich war, die Wahrheit einer Prophetie sofort an deren Inhalt zu erkennen – da sich eine echte Prophetie ja nicht durch das Wort selbst, sondern erst durch das spätere Eintreffen des Gesagten bewahrheitet – und da es schwer war, den echten Propheten vom falschen zu unterscheiden (denn selbst der Teufel, verflucht wie er ist, fuhr in Menschen, die weissagten, und brachte falsche Propheten hervor, die so taten, als könnten auch sie Zukünftiges voraussagen; vgl. 1 Könige 22,23), war es leicht, dass Menschen getäuscht wurden. Denn das, was gesprochen wurde, ließ sich nicht in jenem Moment prüfen – erst das Eintreffen des Ereignisses bewies, ob es ein wahrer oder falscher Prophet war.
Damit die Hörer jedoch nicht schon vor dem Eintreten der Ereignisse getäuscht würden, gab Paulus ihnen ein Unterscheidungszeichen an die Hand, das es erlaubte, schon vorher zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Ausgehend von diesem Gedanken leitet er zur Lehre über die Gnadengaben über und korrigiert auch die Konflikte und das Konkurrenzdenken, die daraus entstanden waren.
Für den Moment jedoch beginnt er seinen Vortrag über die Wahrsager mit den Worten:
2.
„Was aber die geistlichen Gaben betrifft, Brüder, so will ich nicht, dass ihr ohne Kenntnis seid.“
Er nennt diese Gaben „geistlich“, weil sie allein das Werk des Geistes sind und menschliche Anstrengung keinerlei Anteil an der Hervorbringung solcher Wunder hat. Und bevor er ausführlich darüber spricht, legt er – wie gesagt – zunächst den Unterschied zwischen Wahrsagerei und Prophetie dar und sagt:
„Ihr wisst: Als ihr Heiden wart, zog es euch unwiderstehlich zu den dummen Götzen hin.“
Was er damit sagen will, ist Folgendes: In den heidnischen Tempeln – so erklärt er – wenn jemand von einem unreinen Geist besessen war und zu weissagen begann, geschah dies unter einem Zustand des Verrücktseins. Dieser Mensch wurde gleichsam in Ketten vom Geist fortgezogen, ohne dass er verstand, was er sagte. Denn das ist das Charakteristische an der Wahrsagerei: außer sich zu sein, gezwungen zu werden, gestoßen, gezogen, geschleift zu werden wie ein Wahnsinniger.
Der Prophet jedoch ist ganz anders: Er spricht mit klarem Geist, mit gefasstem Gemüt und in vollem Bewusstsein dessen, was er sagt. Darum – so mahnt Paulus – sollst du schon vor dem Eintreffen eines Ereignisses den Wahrsager vom Propheten unterscheiden. Beachte auch, wie er seine Ausführungen von jedem Verdacht reinhält, indem er die Adressaten selbst als Zeugen anruft – jene, die es selbst erlebt haben. Als wollte er sagen: Ich erfinde nichts und ziehe den heidnischen Kult nicht leichtfertig in den Schmutz, wie ein Feind es täte – ihr selbst seid Zeugen, wie es euch erging, als ihr noch Heiden wart und in diesen Zustand hineingezogen wurdet.
Und falls nun jemand sagen sollte: „Aber vielleicht ist auch das nur die Meinung gläubiger Christen“, so fährt er fort: „Selbst von denen, die außerhalb des Glaubens stehen, werde ich euch den Beweis bringen.“ Höre zum Beispiel, wie Platon sagt (Apologie des Sokrates, Kap. 7):
„Die Orakeldeuter und Wahrsager sprechen viele große und schöne Dinge – aber sie wissen nicht, was sie sagen.“
Oder höre einen anderen, einen Dichter, der auf das Gleiche hinweist: Ein Mensch wurde durch gewisse mystische Rituale und Hexereien von einem Dämon besessen gemacht und konnte von da an weissagen – aber jedes Mal während der Weissagung stürzte er zu Boden und krümmte sich unter der Gewalt des Dämons, sodass er fast an dieser Verzückung zugrunde ging. Deshalb rief er jenen, die diese Künste vollzogen hatten, verzweifelt zu:
„Löst mich, ich flehe euch an: Der mächtige Gott kann nicht länger im sterblichen Fleisch wohnen.“
Und weiter:
„Löst meinen Kranz, badet meine Füße mit Tropfen aus der reinen Quelle; löscht diese mystischen Zeichen – und lasst mich gehen.“
In solchen und ähnlichen Dingen – und man könnte noch viele weitere nennen – erkennen wir zweierlei: zum einen den Zwang, unter dem die Dämonen stehen und der sie zu Sklaven macht; und zum anderen die Gewalt, der sich jene aussetzen, die sich diesen Mächten hingegeben haben, sodass sie sogar von ihrer natürlichen Vernunft abweichen.
Und auch die Pythonisse – denn ich sehe mich nun gezwungen, noch einen weiteren ihrer schändlichen Bräuche zu benennen und bloßzustellen, obwohl es besser wäre, darüber zu schweigen, da es sich für uns nicht ziemt, solche Dinge überhaupt zu erwähnen. Aber damit ihr ihre Schande umso deutlicher erkennt, ist es notwendig, dies auszusprechen – damit ihr wenigstens so das Maß des Wahnsinns und der Verhöhnung erkennt, mit der jene leben, die sich der Wahrsagerei bedienen:
Diese Pythonisse also – eine Frau – soll zu bestimmten Zeiten mit gespreizten Beinen auf dem Dreifuß des Apollon sitzen. Und so steige der böse Geist von unten auf und fahre in den unteren Teil ihres Körpers, woraufhin er die Frau mit Wahnsinn erfülle. Dann beginne sie mit zerzaustem Haar wie eine Rasende zu tanzen, schäume aus dem Mund und spreche in ihrer Verzückung die Worte ihres Wahnsinns aus.
Ich weiß, dass ihr euch schämt und errötet, wenn ihr solche Dinge hört. Doch sie rühmen sich sowohl dieser Schande als auch dieses Wahnsinns, den ich beschrieben habe.
Solche Dinge also – und all das, was damit zusammenhängt – meinte Paulus, als er sagte:
„Ihr wisst: Als ihr Heiden wart, zog es euch unwiderstehlich zu den dummen Götzen hin.“
Und weil er zu Menschen sprach, die mit diesen Dingen gut vertraut waren, führt er nicht alles mit äußerster Genauigkeit aus – nicht, um sie zu belasten, sondern um sie lediglich daran zu erinnern und ihre Erinnerung aufzufrischen. So verlässt er das Thema rasch wieder und wendet sich dem eigentlichen Gegenstand seiner Ausführungen zu.
Was aber bedeutet: „zu den dummen Götzen“?
Diese Wahrsager pflegten, zu den Götzenbildern hingeführt und hingeschleift zu werden.
Aber wenn die Götzen selbst dumm sind – wie haben sie dann anderen Antworten geben? Und warum führte der Dämon sie gerade zu diesen Bildern? Weil er sie wie Kriegsgefangene, in Ketten, dorthin schleppte – und zugleich den Betrug glaubhaft erscheinen lassen wollte. Damit die Menschen nicht auf den Gedanken kamen, es handle sich bloß um dumme Steine, bemühte sich der Dämon eifrig darum, die Menschen fest an die Götzenbilder zu binden, sodass sein eigener Name und Stil auf diese übertragen würde.
Unsere Riten sind jedoch ganz anders.
Paulus beschreibt sie hier nicht im Einzelnen – ich meine die prophetischen Äußerungen –, denn sie waren ihnen allen gut bekannt.
Die Prophetie wurde unter ihnen praktiziert – und zwar in einer Weise, die ihrem Glauben entsprach: mit Verstand und in völliger Freiheit.
Deshalb hatten sie auch die Fähigkeit, entweder zu sprechen oder zu schweigen. Sie standen nicht unter Zwang, sondern wurden mit einem Vorrecht geehrt.
Aus diesem Grund flohen Propheten wie Jona (Jona 1,3), zögerten wie Ezechiel (Ez 3,15) oder entschuldigten sich wie Jeremia (Jer 1,6).
Gott zwingt sie nicht, sondern berät, ermahnt und warnt. Er verfinstert nicht den Verstand – denn Verwirrung, Wahnsinn und geistige Finsternis sind das eigentliche Werk eines Dämons.
Gott hingegen erleuchtet den Geist und lehrt mit Bedacht, was für das Leben notwendig ist.
3.
Dies also ist der erste Unterschied zwischen einem Wahrsager und einem Propheten.
Ein zweiter, davon zu unterscheidender, folgt sogleich, wenn Paulus sagt:
1. Korinther 12,3
„Darum lasse ich euch wissen: Niemand, der im Geist Gottes redet, sagt: ›Verflucht sei Jesus‹; und niemand kann sagen: ›Jesus ist der Herr‹ – außer im Heiligen Geist.“
Was er damit sagen will, ist: Wenn ihr jemanden seht, der den Namen Jesu nicht ausspricht oder ihn verflucht, der ist ein Wahrsager.
Wenn ihr aber jemanden seht, der alles im Namen Jesu spricht, dann erkennt daran, dass er geistbegabt ist.
Du fragst nun vielleicht: Was sollen wir dann über die Katechumenen (Anm.: Heiden, die sich auf die Taufe vorbereiten) sagen?
Denn wenn niemand sagen kann: „Jesus ist der Herr“, außer im Heiligen Geist – was gilt dann für jene, die zwar seinen Namen aussprechen, aber seines Geistes nicht teilhaftig sind?
Doch darum geht es Paulus in dieser Stelle nicht. Denn zur damaligen Zeit gab es noch keine Katechumenen im heutigen Sinn. Es geht hier um den Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen, nicht um Taufanwärter.
Dann könnte man weiterfragen: Rufen denn Dämonen niemals den Namen Gottes an?
Haben die Besessenen nicht gesagt:
„Wir wissen, wer du bist – der Heilige Gottes“ (Markus 1,24)?
Haben sie nicht zu Paulus gesagt:
„Diese Männer sind Diener des höchsten Gottes“ (Apostelgeschichte 16,17)?
Doch das taten sie nur unter Zwang, unter Pein und Strafe – niemals freiwillig und nicht aus freiem Willen, ohne dass sie gezüchtigt wurden.
Hier ist es angebracht zu fragen, warum der Dämon solche Dinge überhaupt sagte, und warum Paulus ihn trotzdem tadelte.
Paulus handelte in Nachahmung seines Meisters – denn auch Christus hatte so gehandelt und die Dämonen zum Schweigen gebracht, da er keine Zeugnisse von ihnen annehmen wollte.
Und warum tat der Teufel das überhaupt?
Er versuchte, die göttliche Ordnung zu stören, die Autorität der Apostel an sich zu reißen, und die Menschen dazu zu bringen, auf ihn zu hören. Wäre ihm das gelungen, hätte er sich selbst als glaubwürdig dargestellt und seinen eigenen Plan durchsetzen können.
Damit es aber gar nicht erst so weit kam und die Täuschung nicht einmal beginnen konnte, gebot Paulus den Dämonen zu schweigen – selbst wenn sie die Wahrheit sagten. Denn so sollte verhindert werden, dass die Menschen auf ihre Lügen hören.
4.
Nachdem er also sowohl durch das erste als auch durch das zweite Merkmal die Wahrsager und die Propheten deutlich unterschieden hat, wendet er sich nun den Wundern zu. Er tut das nicht ohne Grund, sondern um den Streit zu beenden, der aus diesem Thema entstanden war, und um sowohl diejenigen zu trösten, die nur wenig empfangen hatten, als auch jene zu warnen, die sich ihres größeren Anteils überhoben. Deshalb beginnt er so:
1. Korinther 12,4
„Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber es ist ein und derselbe Geist.“
Zuerst richtet er sich an diejenigen, die eine geringere Gabe empfangen hatten und darüber traurig waren.
„Warum“, sagt er, „bist du niedergeschlagen? Weil du nicht so viel empfangen hast wie ein anderer? Denke doch daran: Es ist ein Geschenk – keine Schuld. Wenn du das verstehst, wirst du deinen Schmerz besänftigen können.“
Aus diesem Grund sagt er gleich zu Beginn: „Es gibt verschiedene Gaben.“ Er spricht nicht von Zeichen oder Wundern, sondern bewusst von Gaben, also von frei geschenkten Gnaden, um sie zu trösten und zur Dankbarkeit zu bewegen – nicht zum Klagen.
„Und überlege auch das“, sagt er, „selbst wenn du weniger empfangen hast, so stammt doch das, was du empfangen hast, aus derselben Quelle wie das, was der andere erhalten hat. Daher hast du denselben Anteil an der Ehre. Du kannst ja nicht sagen: Dem anderen gab der Geist das Geschenk, mir aber ein Engel – nein, der gleiche Geist hat es euch beiden gegeben.“ Darum fügt er hinzu: „aber ein und derselbe Geist.“
Auch wenn die Gaben verschieden sind, so ist der Geber doch derselbe. Denn du wie der andere – ihr schöpft aus derselben Quelle.
1. Korinther 12,5
„Und es gibt verschiedene Dienste, aber es ist ein und derselbe Herr.“
Um seinen Trost noch zu vertiefen, erwähnt Paulus nun auch den Sohn und später den Vater. Er nennt die Gaben hier auch „Dienste“ – ein weiterer Begriff, der ebenfalls Trost spenden soll. Warum das? Weil jemand, der eine „Gabe“ hört, sich womöglich grämt, wenn er nur einen kleinen Anteil davon erhalten hat. Aber wenn man von einem „Dienst“ spricht, ist die Perspektive eine andere – denn ein Dienst bedeutet Mühe und Anstrengung.
„Warum also“, sagt Paulus, „bist du traurig, wenn Gott einem anderen mehr Arbeit aufgetragen hat – und dich dafür geschont hat?“
1. Korinther 12,6
„Und es sind verschiedene Wirkungen, aber es ist derselbe Gott, der alles in allen wirkt.“
1. Korinther 12,7
„Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes zum Nutzen gegeben.“
Und was, so fragt einer, ist eine Wirkung? Und was eine Gabe? Und was ein Dienst? Es sind nur verschiedene Bezeichnungen, da die Dinge dieselben sind. Denn was eine Gabe ist, das ist auch ein Dienst, und das nennt er ebenso eine Wirkung. So erfülle deinen Dienst; (2. Timotheus 4,5). Dienst – und: Ich preise meinen Dienst (Römer 11,13). Amt – und in dem Brief an Timotheus sagt er: Darum erinnere ich dich, die Gabe Gottes anzufachen, die in dir ist (2. Timotheus 1,6). Und wiederum schreibt er an die Galater: Denn der in Petrus kräftig wirkte zum Aposteldienst unter den Beschnittenen, der wirkte auch in mir kräftig für die Heiden (Galater 2,8). Seht ihr, dass er damit andeutet, dass es keinen Unterschied in den Gaben des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes gibt? Ohne dabei die Personen zu vermengen – das sei ferne! – sondern um die gleiche Ehre des Wesens zu bezeugen. Denn was der Geist verleiht, das, so sagt er, wirkt auch Gott; und das, was der Sohn einsetzt und gewährt. Wäre einer dem anderen unterlegen, so hätte er dies nicht in dieser Weise gesagt, noch hätte er auf diese Weise denjenigen getröstet, der sich gekränkt fühlte.
5.
Nun tröstet er ihn auch noch auf eine andere Weise: indem er darlegt, dass das Maß, das ihm zuteilgeworden ist, ihm nützlich ist, auch wenn es nicht groß erscheint. Denn nachdem er gesagt hat, dass es derselbe Geist, derselbe Herr und derselbe Gott ist, und ihn damit gestärkt hat, bringt er einen weiteren Trost, indem er sagt: „Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes zum Nutzen gegeben.“ Denn damit nicht jemand sage: Was nützt es mir, dass es derselbe Herr, derselbe Geist, derselbe Gott ist, wenn ich doch weniger empfangen habe? – sagt er, dass dies so geschehen ist, weil es für ihn nützlich war.
Er nennt Wunder „Offenbarung des Geistes“ – und das aus gutem Grund. Denn für mich als Gläubigen ist derjenige, der den Geist hat, erkennbar durch seine Taufe; für den Ungläubigen aber wird dies auf keine andere Weise sichtbar als durch die Wunder. Auch das ist also ein nicht geringer Trost. Denn obwohl es Unterschiede in den Gaben gibt, ist der Beweis derselbe: ob ihr viel oder wenig empfangen habt, ihr seid gleichermaßen offenbar. Wenn ihr also zeigen möchtet, dass ihr den Geist habt, habt ihr einen ausreichenden Beweis.
Darum: Da sowohl der Geber derselbe ist als auch das Gegebene reine Gnade ist, und die Offenbarung durch ebendiese Gabe geschieht, und dies für euch nützlicher ist – so seid nicht betrübt, als ob ihr verachtet würdet. Denn Gott hat es nicht getan, um euch zu entehren, noch um euch als geringer zu erklären als einen anderen, sondern um euch zu schonen und zu eurem Nutzen. Mehr zu empfangen, als man zu tragen vermag, das wäre vielmehr schädlich, unheilsam und ein wirklicher Grund zur Niedergeschlagenheit.
1. Korinther 12,8
„Dem einen nämlich wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben, einem anderen aber ein Wort der Erkenntnis gemäß demselben Geist…“
1. Korinther 12,9
„…einem anderen Glaube in demselben Geist, einem anderen Gnadengaben der Heilung in demselben Geist…“
Seht ihr, wie er überall diese Ergänzung macht, indem er sagt: „durch denselben Geist“ und „gemäß demselben Geist“? Denn er wusste, dass daraus ein großer Trost hervorgeht.
1. Korinther 12,10
„…einem anderen Wunderwirkungen, einem anderen prophetisches Reden, einem anderen die Unterscheidung der Geister, einem anderen verschiedene Arten von Sprachen, einem anderen die Übersetzung der Sprachen.“
Weil sich viele auf eben diese Gabe etwas einbildeten, stellte er sie zuletzt hin und fügte hinzu:
1. Korinther 12,11
„Dies alles aber wirkt ein und derselbe Geist, der jedem persönlich zuteilt, wie er will.“
Das allgemeine Heilmittel, in dem sein Trost besteht, ist: Alle empfangen aus derselben Wurzel, aus denselben Schätzen, aus denselben Strömen. Und so verweilt er immer wieder bei dieser Wendung und gleicht damit die scheinbare Ungleichheit aus und tröstet. Oben hatte er zwar sowohl den Geist als auch den Sohn und den Vater als Spender der Gaben dargestellt, aber hier genügte es ihm, allein den Geist zu nennen, damit man auch daraus die gleiche Würde aller drei erkennen möge.
Was ist nun das „Wort der Weisheit“? Das ist jene Gabe, die Paulus hatte, die auch Johannes, der Sohn des Donners, besaß.
Und was ist das „Wort der Erkenntnis“? Das war bei den meisten Gläubigen vorhanden: sie hatten zwar Erkenntnis, konnten sie aber nicht lehren oder leicht einem anderen vermitteln.
Und einem anderen Glaube: hier ist nicht der Glaube an die Lehre gemeint, sondern der Wunderglaube, jener, von dem Christus sagte: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, werdet ihr zu diesem Berg sagen: Hebe dich hinweg!“ (Matthäus 17,20). Auch die Apostel baten darum und sagten: „Stärke unseren Glauben!“ (Lukas 17,5). Denn dieser Glaube ist die Mutter der Wunder. Doch ist es nicht dasselbe, Wunder wirken zu können, wie Gaben der Heilung zu haben: wer eine Heilungsgabe besaß, heilte lediglich; wer aber die Kraft zur Wunderwirkung hatte, konnte auch strafen. Denn ein Wunder besteht nicht nur im Heilen, sondern auch im Richten – so wie Paulus Blindheit bewirkte oder Petrus den Tod herbeiführte.
Einem anderen prophetisches Reden; einem anderen die Unterscheidung der Geister. Was heißt das? Es bedeutet, zu erkennen, wer geistlich ist und wer nicht; wer ein wahrer Prophet ist und wer ein Betrüger. Wie er auch zu den Thessalonichern schrieb: „Verachtet prophetisches Reden nicht; prüft aber alles, das Gute haltet fest.“ (1. Thessalonicher 5,20–21). Denn damals drängten sich viele falsche Propheten vor, weil der Teufel versuchte, auf hinterlistige Weise das Falsche anstelle der Wahrheit zu setzen.
Einem anderen verschiedene Sprachen; einem anderen die Übersetzung der Sprachen. Denn der eine konnte zwar selbst verstehen, was er sprach, konnte es aber nicht anderen erklären; ein anderer konnte beides oder wenigstens eines davon. Diese Gabe erschien groß, weil sowohl die Apostel sie zuerst erhielten als auch viele Korinther sie besaßen. Das Wort der Lehre dagegen war weniger verbreitet. Darum stellte er es an den Anfang, jene aber ans Ende – denn das eine war der Grund, die anderen die Folge; ebenso wie auch Prophetie, Wundertaten, Sprachen sprechen und Sprachen übersetzen.
Denn keine ist ihr gleich. Deshalb sagt er auch: „Die Ältesten, die gut vorstehen, sollen doppelter Ehre gewürdigt werden, besonders die, welche im Wort und in der Lehre arbeiten.“ (1. Timotheus 5,17). Und an Timotheus schreibt er: „Sei eifrig beim Vorlesen, beim Ermahnen, beim Lehren. Vernachlässige nicht die Gnadengabe, die in dir ist.“ (1. Timotheus 4,13–14). Seht ihr, wie er es auch eine Gabe nennt?
6.
Sodann wiederholt er hier den Trost, den er zuvor gegeben hatte, als er sagte: „derselbe Geist“ – indem er nun sagt: „Dies alles aber wirkt ein und derselbe Geist, der jedem persönlich zuteilt, wie er will.“ Und damit gibt er nicht nur Trost, sondern verschließt auch dem Widersprechenden den Mund, indem er hinzufügt: „wie er will.“ Denn es war nötig, nicht nur zu heilen, sondern auch zu „verbinden“, so wie er es auch im Römerbrief tut, wenn er sagt: „Wer bist du, Mensch, dass du mit Gott rechten willst?“ (Römer 9,20). Genauso hier: „wie er will“.
Und was vom Vater gesagt wurde, das überträgt er auch auf den Geist. Denn wie er über den Vater sagte: „Es ist derselbe Gott, der alles in allen wirkt“, so sagt er auch über den Geist: „Dies alles wirkt ein und derselbe Geist.“ – Aber, wird jemand sagen, er wirkt doch, angetrieben von Gott. Nein, das hat er nirgends gesagt, das dichtet ihr nur hinzu. Denn als er sagte: „der alles in allen wirkt“, da meinte er damit Menschen – Ihr werdet kaum behaupten wollen, dass der Heilige Geist zu diesen Menschen zählt, selbst wenn ihr euch in Ihrem Wahn und Irrsinn noch so sehr verrennt.
Weil er nämlich zuvor sagte: „durch den Geist“, damit niemand meine, dieses „durch“ bezeichne eine Unterordnung oder Fremdbestimmung, fügt er hinzu: der Geist wirkt – nicht: wird gewirkt, und: er wirkt, wie er will – nicht: wie es ihm befohlen wird. Denn wie der Sohn vom Vater sagt, dass dieser Tote auferweckt und lebendig macht, so sagt er auch über sich selbst: „Der Sohn macht lebendig, wen er will“ (Johannes 5,21). Ebenso wird vom Geist an anderer Stelle gesagt, dass er alles mit Autorität tut und nichts ihn hindert. Denn der Ausdruck „der weht, wo er will“ (Johannes 3,8) – auch wenn er vom Wind gesprochen ist – bekräftigt dieses Verständnis. Und hier sagt er: „Er wirkt alles, wie er will.“
Und an anderer Stelle lässt sich erkennen, dass er nicht eines der gewirkten Dinge ist, sondern zu denen gehört, die wirken. Denn: „Wer weiß, was im Menschen ist, außer dem Geist des Menschen, der in ihm ist? So weiß auch niemand, was in Gott ist, außer dem Geist Gottes.“ (1. Korinther 2,11). Dass aber der Geist des Menschen – also die Seele – nicht erst fremd angestoßen werden muss, um zu erkennen, was in ihr ist, versteht sich von selbst.
Ebenso wenig braucht der Heilige Geist Antrieb, um das zu erkennen, was in Gott ist. Denn die Bedeutung ist: So wie die Seele des Menschen ihre eigenen Tiefen kennt, so kennt der Heilige Geist die Tiefen Gottes. Wenn also schon die Seele des Menschen dafür keine äußere Wirkung braucht, wie viel weniger der Heilige Geist, der das Innerste Gottes kennt und keinen Antrieb von außen braucht, um Gaben den Aposteln zu geben.
Doch über dies hinaus will ich auch das nochmals erwähnen, was ich zuvor gesagt habe: Wenn nämlich der Geist minderwertig und von anderer Substanz wäre, dann hätte auch der ganze Trost keine Bedeutung – ebenso wenig wie die Worte: „aus demselben Geist“. Denn wenn jemand etwas vom König empfangen hat, dann empfindet er es als große Ehre, dass es direkt vom König kam. Wenn es aber von einem Knecht kommt und man ihm dies vorhält, dann kränkt ihn das eher. Daraus wird also noch einmal deutlich: Der Heilige Geist gehört nicht zur Substanz eines Dieners, sondern zur Würde des Königs.
7.
Wie er sie also getröstet hatte, als er sagte, dass es verschiedene Dienste gibt, aber denselben Herrn, und verschiedene Wirkungen, aber denselben Gott, so tröstet er sie auch, wenn er oben sagte, dass es verschiedene Gnadengaben gibt, aber denselben Geist, und später wieder: „Dies alles aber wirkt ein und derselbe Geist, der jedem persönlich zuteilt, wie er will.“
Er sagt gleichsam: Lasst uns, ich bitte euch, nicht verzagen; lasst uns nicht klagen: „Warum habe ich dies empfangen und jenes nicht?“ Lasst uns nicht vom Heiligen Geist Rechenschaft fordern. Denn wenn ihr wisst, dass er es aus Fürsorge verliehen hat, dann bedenkt ihr, dass er auch das Maß aus derselben Fürsorge bestimmt hat – und seid zufrieden und freut euch über das, was ihr empfangen habt; murrt nicht über das, was ihr nicht empfangen habt. Ja vielmehr: Bekennt euch zu Gottes Güte, dass er euch nichts gegeben hat, was eure Kraft übersteigt.
Und wenn man sich schon bei geistlichen Dingen nicht übermäßig neugierig zeigen sollte, wie viel mehr noch bei zeitlichen Dingen!
Man soll sich still verhalten und nicht akribisch fragen, warum einer reich und ein anderer arm ist. Denn erstens: Nicht jeder Reiche ist durch Gott reich, sondern viele durch Unrecht, Raubgier und Habsucht. Denn wie könnte der, der das Reichwerden verbietet, es zugleich gewähren?
Doch um, weit über das Notwendige hinaus, auch die Gegner zum Schweigen zu bringen, lasst uns das Gespräch weiter zurückführen, in die Zeit, in der Reichtum tatsächlich von Gott verliehen wurde – und nun antwortet mir: Warum war Abraham reich, während Jakob nicht einmal Brot hatte?
Waren nicht beide gerecht? Sagt Gott nicht von allen dreien: „Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (2. Mose 3,6)?
Warum also war der eine reich und der andere ein Tagelöhner? Oder genauer: Warum war Esau, der gottlos war und seinen Bruder töten wollte, reich, während Jakob viele Jahre lang diente? Warum lebte Isaak in Ruhe und Wohlstand, während Jakob mit Mühsalen und Leiden zu kämpfen hatte? Deshalb sagte dieser auch: „Wenig und schlecht sind die Tage meines Lebens gewesen“ (1. Mose 47,9).
Warum lebte David, der sowohl Prophet als auch König war, sein Leben lang in Mühsal, während Salomo, sein Sohn, vierzig Jahre in Sicherheit, Frieden, Ehre und Genuss lebte, wie kein anderer Mensch? Warum war es auch unter den Propheten so, dass der eine mehr litt, der andere weniger? Weil es für jeden so nützlich war. Deshalb muss man über jeden Einzelnen sagen: „Deine Gerichte sind wie eine große Tiefe“ (Psalm 36,7). Denn wenn selbst diese großen und bewundernswerten Männer nicht alle gleichermaßen durch Gott geführt wurden – der eine durch Armut, der andere durch Reichtum, der eine durch Ruhe, der andere durch Not –, wie viel mehr sollten wir dies heute bedenken?
8.
Darüber hinaus sollte man auch bedenken, dass vieles, was geschieht, nicht dem Willen Gottes entspricht, sondern aus unserer eigenen Bosheit hervorgeht. Sagt also nicht: „Warum ist der eine, der gottlos ist, reich, und der andere, der gerecht ist, arm?“ Denn zunächst lässt sich auch darüber etwas sagen: Der Gerechte erleidet keinen Schaden durch seine Armut – im Gegenteil, sie bringt ihm größere Ehre. Der Gottlose dagegen häuft mit seinem Reichtum nur Strafe für die Zukunft auf, es sei denn, er ändert sich. Ja sogar schon vor der Strafe wird ihm der Reichtum oft zum Verhängnis: Er führt ihn in viele Fallen und Übel. Doch Gott lässt es zu, um den freien Willen zu zeigen und alle anderen zu lehren, nicht dem Wahnsinn des Geldes zu verfallen.
Wie aber, sagt ihr, wenn ein Gottloser reich ist und nichts Schreckliches erleidet? Wenn ein Gerechter reich ist, geschieht das mit Recht; aber wenn ein Schlechter Reichtum besitzt – was sagt ihr dann? Dass selbst das beklagenswert ist. Denn Reichtum verschärft das Unheil, wenn er mit Bosheit verbunden ist. Ist also ein Gerechter arm? So ist er dennoch nicht geschädigt. Ist ein Gottloser arm? Dann ist es gerecht, ja sogar zu seinem Vorteil. Aber, sagt ihr, da ist jemand, der Reichtum von seinen Vorfahren geerbt hat und ihn an Huren und Schmeichler verschwendet, und nichts erleidet. Was sagen ihr da? Er treibt Unzucht – und ihr sagt, er leide nichts? Er ist trunksüchtig – und ihr glaubt, das sei Luxus?
Er verschwendet ohne Nutzen – und ihr meint, man müsse ihn beneiden?
Nein – was könnte schlimmer sein als Reichtum, der die Seele zerstört? Wenn ein Körper entstellt wäre, würdet ihr sagen, das sei ein Fall für tiefste Trauer – und wenn ihr dann die Seele entstellt und verwundet seht, haltet ihr diesen Menschen für glücklich?
Aber er merkt es nicht, sagt ihr? Gerade deshalb ist er zu bemitleiden, wie alle Wahnsinnigen. Denn wer weiß, dass er krank ist, sucht Heilung und nimmt sie an; wer es aber nicht weiß, hat keine Chance auf Rettung.
Und so einen nennt ihr glücklich?
Aber das ist kein Wunder – denn die meisten Menschen kennen die wahre Liebe zur Weisheit nicht. Darum erleiden wir die schwersten Strafen, werden gezüchtigt und entziehen uns nicht einmal der Züchtigung. Deshalb gibt es Zorn, Traurigkeit und ständige Unruhe: Denn Gott hat uns ein Leben ohne Kummer gezeigt – das Leben der Tugend – aber wir verlassen diesen Weg und wählen den anderen, den Weg des Reichtums und des Geldes, voller unendlicher Übel.
Wir handeln wie einer, der nicht versteht, was wahre Schönheit ist, sondern nur auf Kleidung und Schmuck schaut: Wenn er eine schöne Frau mit natürlicher Anmut sieht, geht er achtlos an ihr vorbei, aber eine hässliche, schlecht gebaute und entstellte Frau in prächtigen Kleidern nimmt er zur Frau.
So verhalten sich viele auch in Bezug auf Tugend und Laster: Das Laster, äußerlich geschmückt, nehmen sie auf – die Tugend, schlicht und ungeschmückt, weisen sie zurück – obwohl sie gerade deshalb die Tugend wählen sollten.
9.
Darum schäme ich mich, dass es unter den törichten Heiden Menschen gibt, die diese Lebensweisheit – wenn auch nicht in Taten, so doch wenigstens im Urteil – beherzigen und die Vergänglichkeit der gegenwärtigen Dinge erkennen, während unter uns manche nicht einmal das verstehen, ja, deren ganzes Urteilsvermögen verdorben ist. Und das, obwohl uns die Heilige Schrift unaufhörlich in den Ohren klingt und sagt: „In seinen Augen ist ein Verwerflicher verachtet, aber die den Herrn fürchten, ehrt er“ (Psalm 15,4);
„Die Furcht des Herrn übertrifft alles“;
„Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das ist der ganze Mensch“ (Prediger 12,13);„Sei nicht neidisch auf böse Menschen“ (Psalm 49,16);
„Alles Fleisch ist wie Gras, und all seine Herrlichkeit wie die Blume des Grases“ (Jesaja 40,7).
Obwohl wir täglich solche und ähnliche Worte hören, sind wir doch wie an die Erde genagelt. Und wir gleichen unwissenden Kindern, die zwar ständig das Alphabet lernen, aber wenn man sie außerhalb der Reihe fragt, die Buchstaben verwechseln und damit nur Spott auf uns ziehen.
So auch ihr: Wenn wir hier die Wahrheiten in der rechten Ordnung darlegen, folgt ihr uns irgendwie, aber wenn man euch draußen fragt – nicht in dieser festen Ordnung –, was zuerst zu setzen sei und was danach, was wichtiger ist und was weniger: dann wisst ihr keine Antwort und macht euch lächerlich.
Ist es nicht geradezu zum Lachen, sagt mir, dass jene, die Unsterblichkeit erwarten und die Güter, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gedrungen sind, dennoch um vergängliche Dinge streiten und sie für beneidenswert halten? Wenn ihr noch lernen müsst, dass Reichtum keine große Sache ist, dass das Gegenwärtige nur Schatten und Traum ist, dass es wie Rauch vergeht und verweht –
dann bleibt ihr einstweilen vor dem Heiligtum stehen, verweilt im Vorhof, denn ihr seid noch nicht würdig, die himmlischen Palastgemächer zu betreten. Denn wenn ihr nicht einmal das Vergängliche als vergänglich erkennen könnt, wann werdet ihr dann fähig sein, es zu verachten?
Wenn ihr aber sagt: „Ich weiß das“, dann hört auf, neugierig zu forschen, warum dieser reich ist und jener arm. Denn genau das ist, als würde man herumgehen und fragen, warum einer weiß ist und ein anderer schwarz, warum einer eine Hakennase hat und ein anderer eine flache. Denn wie diese Unterschiede für uns bedeutungslos sind, so auch Reichtum und Armut – ja noch viel mehr. Alles hängt davon ab, wie wir damit umgehen. Ob ihr arm seid: Ihr könnt dennoch fröhlich leben und euch selbst verleugnen. Oder ob ihr reich seid: Ihr seid elender als alle, wenn ihr der Tugend flieht. Denn allein die Tugend ist wichtig für uns – und wenn sie fehlt, ist alles andere nutzlos. Deshalb kommen auch diese ständigen Fragen auf, weil die meisten meinen, dass Gleichgültiges wichtig sei, während sie das wirklich Wichtige nicht beachten: Denn was für uns wirklich zählt, das ist Tugend und Liebe zur Weisheit.
Weil ihr also – ich weiß nicht wo – fern von ihr steht, dann herrscht Verwirrung der Gedanken, darum die vielen Wellen, darum der Sturm. Denn wer von der himmlischen Herrlichkeit und von der Liebe zum Himmel abgefallen ist, der verlangt nach irdischem Ruhm und wird Sklave und Gefangener. Und warum, fragt ihr, begehren wir das Irdische? Weil wir das Himmlische nicht mit ganzer Kraft begehren. Und woher kommt das? Aus Nachlässigkeit. Und diese Nachlässigkeit? Aus Verachtung. Und die Verachtung? Aus Torheit und aus der Bindung an das Gegenwärtige,
aus der Weigerung, das Wesen der Dinge gründlich zu erforschen. Und woher kommt das wieder? Daher, dass man nicht aufmerksam in der Schrift liest, sich nicht mit heiligen Menschen austauscht, sondern den Versammlungen der Gottlosen folgt.
Damit das aber nicht so bleibt, und damit wir nicht Welle um Welle empfangen und hinausgezogen werden in das tiefe Meer der Leiden und am Ende völlig untergehen und verlorengehen, solange noch Zeit ist, lasst uns aufstehen und uns auf den Felsen stellen – ich meine: auf die göttlichen Lehren und Worte – und von dort aus auf die Wogen des jetzigen Lebens herabblicken.
Dann werden wir selbst dem Untergang entkommen, und auch andere, die im Schiffbruch sind, hinaufziehen können, und so die kommenden Segnungen erlangen – durch Gnade und Barmherzigkeit.
Quelle:
Homily 29 on First Corinthians, newadvent.org