Kleiner Index heidnischer und abergläubischer Bräuche
Deutsche Übersetzung des lateinischen Originals von Alvisi vom Roten Stein, ergänzt durch einen Anhang mit einer Erläuterung vorchristlicher Bräuche.
- De sacrilegio ad sepulchra mortuorum – „Über die Entweihung von Gräbern der Toten“
- De sacrilegio super defunctos id est dadsisas – „Über die Entweihung an Verstorbenen, welches das Totenmahl ist“
- De spurcalibus in Februario – „Über unreine Handlungen im Februar“
- De casualis id est fanis – „Über heidnische Heiligtümer“
- De sacrilegiis per aeccelsias – „Über Entweihungen in Kirchen“
- De sacris siluarum quae nimidas vocant – „Über die heiligen Haine, die sie „nimidas“ nennen“
- De hiis quae faciunt super petras – „Über das, was sie auf Steinen verrichten“
- De sacris Mercurii, vel Iovis – „Über die Opfer für Merkur oder Jupiter“
- De sacrificio quod alicui sanctorum – „Über Opfer, die irgendeinem Heiligen dargebracht werden“
- De filacteriis et ligaturis – Über Amulette und magische Bänder
- De fontibus sacrificiorum – „Über Quellen, an denen Opfer dargebracht werden“
- De incantationibus – „Über Beschwörungen“
- De auguriis vel avium vel equorum vel bovum stercora vel sternutationes. – „Über Vorzeichen durch Vögel, Pferde, Rinderdung oder Niesen“
- De divinis vel sortilogis – „Über Wahrsager oder Loskundige“
- De igne fricato de ligno id est nodfyr – „Über das Feuer, das durch das Reiben von Holz erzeugt wird, das nodfyr heißt“
- De cerebro animalium – „Über Tierhirne“
- De observatione pagana in foco, vel in inchoatione rei alicujus – „Über heidnische Beobachtung am Feuer, oder bei Beginn einer Sache“
- De incertis locis quae colunt pro sacris – „Über unsichere Orte, die sie als heilig verehren“
- De petendo quod boni vocant sanctae Mariae – „Über die Anrufung, die sie Heilig Maria nennen“
- De feriis quae faciunt Jovi vel Mercurio – „Über Feiern, die sie für Jupiter und Merkur veranstalten“
- De lunae defectione, quod dicunt Vinceluna – „Über die Mondfinsternis, die sie Vinceluna nennen“
- De tempestatibus et cornibus et cocleis – „Über Unwetter, Stierhörner und Schnecken“
- De sulcis circa villas – „Über Furchen rund um Gehöfte“
- De pagano cursu quem yrias nominant, scissis pannis vel calceis – „Über den heidnischen Umzug, den sie yrias nennen, mit zerrissenen Kleidern oder Schuhen“
- De eo, quod sibi sanctos fingunt quoslibet mortuos – „Über das, was sie sich über irgendwelche Toten als Heilige ausdenken.“
- De simulacro de consparsa farina – „Über ein Götzenbild, das mit Mehl bestreut ist“
- De simulacris de pannis factis – „Über Götzenbilder, die aus Tüchern gemacht sind“
- De simulacro quod per campos portant – „Über das Götzenbild, das sie durch die Felder tragen“
- De ligneis pedibus vel manibus pagano ritu – „Über hölzerne Füße und Hände nach heidnischem Ritus“
- De eo, quod credunt, quia feminae lunam commendent, quod possint corda hominum tollere juxta paganos – „Über den Glauben, dass Frauen den Mond beschwören könnten, um nach heidnischem Glauben Herzen der Menschen zu stehlen“
…
Der Indiculus superstitionum et paganiarum ist ein kurzes, lateinisches Verzeichnis heidnischer und abergläubischer Bräuche, das aus dem frühen Mittelalter, vermutlich um das 8. Jahrhundert, stammt. Es ist kein vollständiges Werk, sondern eine Liste von 30 Stichpunkten, in der jeweils heidnische Bräuche genannt werden, die von der Kirche verboten oder als unchristlich angesehen wurden. Der Text ist nur fragmentarisch erhalten, unter anderem im Codex Palatinus Latinus 577 der Vatikanischen Bibliothek.
zu 1. Über die Entweihung von Gräbern der Toten
Nach einem vorchristlichen Brauch legten die Menschen Speisen und Getränke an den Gräbern ihrer Verstorbenen nieder. Teilweise brachten sie sogar auf den Gräbern Tieropfer dar. Bräuche wie diese waren in vielen vorchristlichen Kulturen Europas weit verbreitet und hatten ihren Ursprung in einem tief verwurzelten Ahnen- und Totenkult, der sich über Jahrhunderte gehalten hat.
In der römischen Kultur war der Totenkult fester Bestandteil des religiösen Lebens. Die Toten galten als weiter existierende Seelen, die durch bestimmte Riten geehrt wurden. Gräber wurden als die „Häuser der Toten“ verstanden; man versorgte die Verstorbenen symbolisch mit allem, was sie im Jenseits brauchen konnten.
Auch bei den germanischen Völkern gab es Ahnenverehrung und Totensorge. Dazu gehörten die Vorstellung von einer weiterhin bestehenden Bindung zwischen Lebenden und Toten, welche sich in Träumen zeigen konnte. Sie brachten Tieropfer dar, manchmal auch Hunde und Pferde, die dem Verstorbenen in die andere Welt folgen sollten.
zu 2. Über die Entweihung an Verstorbenen, welches das Totenmahl ist
Die Kirche beanstandete regelmäßig, dass Menschen an den Gräbern ihrer Verstorbenen neben Blumen auch Speisen und Getränke niederlegten oder dort Totenmähle („dadsisas“) abhielten, bei denen die Lebenden mit den Toten symbolisch „speisten“. Das Totenmahl war kein privates Gedenken, sondern ein soziales Ereignis, oft mit der gesamten Sippe oder Dorfgemeinschaft. Es stärkte die Bindung nicht nur zwischen Lebenden und Toten, sondern auch zwischen den Lebenden untereinander. Dabei wurde nicht selten über den Durst getrunken: Am Grab reichte man Wein, Bier oder Met, sodass das Totenmahl oft den Charakter eines festlichen Gelages annahm. In frühmittelalterlichen Bußbüchern wurde festgelegt, dass das Darbringen von Speisen oder Tieropfern an Gräbern mit Buße oder Ausschluss aus der Gemeinde geahndet werde. Trotzdem lebten die Bräuche über Jahrhunderte im Verborgenen weiter, oft in umgewandelter Form (z. B. als Allerseelenbräuche).
zu 3. Über unreine Handlungen im Februar
Hierbei hat es sich wohl um das, was wir Europäer noch heute als Fasching bzw. Karneval feiern. Der Februar markierte den Spätwinter und läutete den Übergang von der dunklen zur hellen Jahreszeit ein. Feste gab es zu dieser Jahreszeit sowohl im antiken Rom als auch im keltisch-germanischen Umkreis. Die Römer nannten das Fest Lupercalien und feierten es am 15. Februar. Es handelt sich dabei um ein altrömisches Fruchtbarkeitsfest, das ursprünglich zur Ehren des Gottes Faunus (Lupercus) begangen wurde. Junge Männer liefen dabei halbnackt durch die Stadt und schlugen Frauen symbolisch mit Riemen aus Ziegenhaut. Tieropfer (meist Ziegen) und rituelle Läufe gehörten ebenfalls dazu. Im germanisch-keltischen Raum gab es zu dieser Zeit Maskentänze, bei denen es teils zu sexuellen Anspielungen kam.
zu 4. Über heidnische Heiligtümer
Dabei handelt es sich um heidnische bzw. vorchristliche Kultstätten, die sich meist in der Natur befanden – etwa in Hainen, an Quellen, auf Hügeln, Feldern oder bei alten Opferplätzen. Vorchristliche heilige Orte fanden Kelten, Germanen und Römer auch in verlassenen oder umgewidmeten Tempeln. An diesen Orten wurde geopfert, beschworen, geweissagt oder Rituale vollzogen.
zu 5. Über Entweihungen in Kirchen
Viele Menschen des Frühmittelalters ließen sich zwar taufen, hielten aber an alten Bräuchen fest und versuchten, diese in den christlichen Kult zu integrieren. So brachten sie etwa magische Gegenstände (z. B. Amulette, Zauberzettel) mit in die Kirche und legten sie auf dem Altar ab – in der Hoffnung auf Heilung oder Schutz. Es kam vor, dass Kräuter, Erde oder Wasser aus der Kirche entwendet und für Zauberzwecke verwendet wurden. In Kirchen wurden nichtchristliche Riten vollzogen, etwa das Flüstern von Sprüchen, das Umschreiten des Altars oder das Mitführen von Tieren als Schutzzauber. Manche glaubten, durch bestimmte Gesten oder Gegenstände an göttlichen Einfluss zu gewinnen.
zu 6. Über die heiligen Haine, die sie „nimidas“ nennen
Zu vorchristlichen Zeiten gab es Waldbereiche, die als heilig oder göttlich bewohnt angesehen wurden. Der Begriff „nimidas“ stellt einen nicht-lateinischen, volkssprachlich überlieferten Ausdruck keltischen Ursprungs dar. Es dürfte sich dabei um eine volkssprachliche Form von nemeton oder nemed handeln, wie sie im keltischen Sprachraum als Wort für „Heiligtümer“ belegt ist. Das heißt, die Schrift wollte die Heiden unmittelbar in ihrer eigenen Sprache ansprechen. An diesen kultischen Waldstätten wurden Opfer dargebracht, Beschwörungen ausgesprochen, Zauberformeln aufgesagt, Rituale vollzogen und Weissagungen eingeholt. In vielen ländlichen Gebieten hat sich diese Tradition bis heute erhalten. Es ist davon auszugehen, dass im 16. und 17. Jahrhundert viele Menschen, die sich heimlich an solchen Plätzen versammelten, der Teilnahme an Hexensabbaten angeklagt und hingerichtet wurden. Die Externsteine im Teutoburger Wald gelten als einer der bekanntesten Orte Deutschlands, an dem kultische Handlungen vorgenommen wurden.
zu 7. Über das, was sie auf Steinen verrichten
Menschen legten Speisen, Trankopfer, Tierblut oder Blumen auf große Steine, die als heilig galten. Diese Opfersteine hatten häufig, wie zum Beispiel am Platz des Skorpions im Waldviertel, Mulden oder Vertiefungen, in denen Flüssigkeit geopfert oder gesammelt wurde.
zu 8. Über die Opfer für Merkur oder Jupiter
Vor der Christianisierung war es ein Brauch, dem Gott Merkur Weihrauch, Speisen, Trankopfer oder Tiere darzubringen. Solche Opfer wurden an bestimmten Tagen in der Nähe alter Heiligtümer, auf Hügeln oder an Bäumen niedergelegt. Im römischen Kalender hatten beide Götter eigene Wochentage. Der Mittwoch galt Merkur, dem Gott der Magie und der Händler, und der Donnerstag Jupiter, dem Wettergott. In einigen Regionen setzten sich Frauen auf bestimmte Steine, um Schwangerschaft oder Geburt zu fördern – Bräuche, die durch Volksüberlieferungen bis in die Neuzeit überlebten. Auf die heiligen Steine wurden auch Zeichen eingeritzt oder Symbole gelegt, begleitet von formelhaften Sprüchen, z. B. zum Wettereinfluss, zur Abwehr von Dämonen oder zur Herstellung von Heilzauber. In einigen Traditionen schliefen die Menschen auch auf oder bei bestimmten Steinen, um im Traum eine Offenbarung zu erhalten. In vielen Regionen blieben diese Handlungen noch bis heute erhalten.
zu 9. Über Opfer, die irgendeinem Heiligen dargebracht werden
Viele Menschen hatten Schwierigkeiten, ihre alten Götter aufzugeben und sich allein der Verehrung eines einzigen Gottes zuzuwenden, wie es die Kirche von ihnen verlangte. Aufgrund des starken Drucks traten viele zwar zum christlichen Glauben über, versuchten aber dennoch, ihre überlieferten Traditionen nicht völlig aufzugeben, sondern sie mit dem neuen Glauben zu vermischen. Dies hatte oft den Charakter eines „verchristlichten Götteropfers“ – man verehrte offiziell nicht mehr Jupiter oder Merkur, sondern z. B. St. Martin oder St. Dionysius, jedoch führte die Bräuche im alten rituellen Verständnis durch. So entstand eine Mischform aus christlicher Praxis und vorchristlichem Brauchtum, die von der Kirche zunehmend als Häresie angesehen und bekämpft wurde. Trotzdem fanden die Gläubigen immer wieder Möglichkeiten, um ihre Bräuche weiterhin zu pflegen.
zu 10. Über Amulette und magische Bänder
Bevor die Kirche versuchte, solche Praktiken zu verbieten – was ihr bis heute nicht gelungen ist – trugen viele Menschen Amulette, Zauberzettel, beschriftete Stoffstreifen, Kordeln oder Ketten als Schutz vor bösen Mächten oder zur Heilung von Krankheiten. Diese Objekte galten als wirksame Mittel gegen Unheil und wurden oft mit großer Selbstverständlichkeit im Alltag verwendet. Im alten Griechenland waren zum Beispiel Filakterien (Phylakterien) bekannt – Kapseln oder Schriftrollen, die man um den Hals, am Arm oder an Kleidungsstücken trug. In Amulette wurden Inschriften, Symbole oder Zauberformeln eingraviert, eingeritzt oder aufgezeichnet, denen man eine schützende oder heilende Wirkung zuschrieb.
zu 11. Über Quellen, an denen Opfer dargebracht werden
Menschen schütteten Milch, Honig, Wein oder Bier in Quellwasser, um die dort wirkenden Gottheiten, Geister oder Naturmächte zu ehren und sich Hilfe oder Beistand zu erbitten.
zu 12. Über Beschwörungen
Beschwörungen, Zauberformeln oder Zaubersprüche waren tief im volkstümlichen Brauchtum verwurzelt. Sie reichten von Heilsprüchen über Wetterzauber bis hin zu Liebes- oder Schadzauber. Man sprach sie zum Beispiel beim Tragen von Amuletten, magischen Bändern oder beim Einnehmen von Kräutertränken. Häufig wurde dabei der Name einer Gottheit oder eines Heiligen angerufen – nicht im Gebet, sondern als magische Formel. Auch das „Festbinden“ von Menschen mit Worten – etwa im Liebes- oder Rivalitätskontext – galt als Beschwörung. Verfluchungssprüche gegen andere wurden als schwere Vergehen angesehen.
zu 13. Über Vorzeichen durch Vögel, Pferde, Rinderdung oder Niesen
Die Augurie (im römischen Kulturkreis) und die Ornithomantie (griechischer Begriff) bezeichnen Praktiken, bei denen das Verhalten von Vögeln als Orakel gedeutet wurde. Römische Auguren – offizielle Staatswahrsager – beobachteten den Flug, die Richtung, die Rufe und das Verhalten bestimmter Vögel, um daraus den Willen der Götter vor politischen, militärischen oder religiösen Entscheidungen abzuleiten. Entsprechende Formen der Vogelschau waren jedoch auch im germanisch-keltischen Raum weit verbreitet.
Auch das Verhalten der Pferde wurde beobachtet. Besonders das Stolpern, Wiehern oder Bocken wurde als Zeichen gewertet – etwa als Warnung vor Unglück oder als Bestätigung einer Entscheidung.
Scheinbar skurril, aber tatsächlich belegt: Form, Farbe oder Lage von Tierdung (v. a. Rindern) wurde ebenfalls als Zeichen gedeutet – z. B. für das Wetter, für Krankheit oder Fruchtbarkeit. Diese Praxis war ländlich-volkstümlich und vermutlich einer der ältesten Bräuche überhaupt.
Bei den Germanen, Griechen und Römern galt ein plötzliches Niesen als Zeichen – je nach Zeitpunkt, Tageszeit oder Richtung. Wenn zum Beispiel jemand beim Reden nieste, war das Gesagte wahr. Oder wenn man beim Aufbruch nieste, war dies ein schlechtes Omen.
zu 14. Über Wahrsager oder Loskundige
Im Indiculus werden Praktiken verurteilt, bei denen Menschen versuchten, zukünftige Ereignisse, Schicksale oder verborgene Dinge durch Zufallsereignisse oder symbolische Zeichen zu erkennen – also Formen der Wahrsagerei, Zukunftsdeutung oder Losbefragung. Aus Sicht der Kirche standen solche Handlungen unter dem Einfluss von Dämonen. Beim Losorakel zog, warf oder wendete man Lose, um göttlichen Rat zu erhalten, etwa beim Runenwerfen bei Germanen oder durch Losstäbe in der Spätantike. Aus diesen älteren Orakeltechniken entwickelten sich später Kartenspiele und Formen wie das Tarot.
Seherinnen oder weisen Frauen in Trance oder Ekstase sind in der religiösen Praxis sowohl der Griechen als auch der Römer und Germanen belegt. Auch fremde Einflüsse (z. B. aus Ägypten oder Syrien) brachten ekstatische Elemente nach Rom, etwa im Kult der Magna Mater oder der Isis. Dennoch galt das Sehen und Wahrsagen in Rom eher als private Praxis.
Bei den Germanen wurde die Trance durch rituellen Gesang, Tanz oder berauschende Kräuter (später „Hexenkräuter“ wie Bilsenkraut, Alraune oder Tollkirsche) ausgelöst. Tacitus berichtet in seiner Germania von weisen Frauen und Seherinnen, die bei den Germanen hohes Ansehen genossen. Besonders bekannt ist die Seherin Veleda, eine germanische Prophetin im 1. Jahrhundert n. Chr., die im Bataveraufstand eine führende geistliche Rolle spielte.
Die bekannteste Form des Orakels in Griechenland ist das Orakel von Delphi. Im Tempel von Delphi wirkte Pythia, die Priesterin des Apollon. Sie saß auf einem Dreifuß über einer Erdspalte, aus der Dämpfe aufstiegen, und versetzte sich dadurch (vermutlich unterstützt durch rituelle Mittel wie Lorbeerräuchern oder -kauen, Mohnsaft oder Kykeon) in Trance. In diesem Zustand sprach sie orakelhafte Antworten, die von Priestern interpretiert wurden.
zu 15. Über das Feuer, das durch das Reiben von Holz erzeugt wird, das nodfyr heißt
Der Begriff „nodfyr“ (althochdeutsch) – auch Notfeuer genannt – bezeichnet im karolingischen Indiculus superstitionum et paganiarum eine rituelle Feuerentzündung durch Reibung (zwei Hölzer oder Seil auf einem Pfahl). Dieses Feuer wurde als rituelle Handlung zu bestimmten Anlässen entfacht – etwa bei Viehseuchen, Krankheiten, Missernten, Pest, dem Verdacht auf dämonischen Einfluss oder beim Übergang zwischen den Jahreszeiten. Dabei wurde das alte Feuer gelöscht, und ein neues Feuer auf rituell reine Weise, also durch Reibung von Hölzern, neu entfacht. Dieses Feuer galt als reinigend, heilend und magisch wirksam. Das Feuer wurde verwendet, um Häuser, Krankenzimmer, Stallungen oder Felder zu räuchern oder Vieh hindurchzutreiben. Es war ursprünglich ein heidnischer Brauch, der in christliche Verbote gelangte. In germanisch-keltischen Kulturen ist das Nodfyr im angelsächsischen und schottischen Raum belegt, wurde aber auch bei Mittsommerfeuern oder Neujahrsriten entzündet. Heute lebt das nodfyr in modernen Sonnwendfeuern weiter.
zu 16. Über Tierhirne
Schon in den medizinischen Schriften der Antike (z. B. bei Hippokrates, Galen) und im Mittelalter (z. B. in den „Salernitanischen Regeln“, im Lorscher Arzneibuch, im Physiologus) finden sich Rezepte, in denen Gehirn von Tieren (z. B. Schaf, Ziege, Hirsch oder Kalb) als Medizin verwendet wurde. So wurde es etwa verwendet, um Epilepsie und Wahnsinn zu behandeln.
In der frühmittelalterlichen Volksmedizin, wie sie in Bußbüchern, aber auch in späteren Handschriften der Klostermedizin und des Volksglaubens auftaucht, ist der Gebrauch von Tierhirn (Hund, Hirsch, Kalb, Eule) als Zutat für magische Schutzsalben, zur Vertreibung böser Geister und zur Behandlung von Tollwut belegt. Die Anwendungen waren nicht rein medizinisch, sondern mit Spruchformeln, astrologischer Deutung oder magischen Vorstellungen verbunden.
Da im katholischen Glauben Tieropfer als überholt und heidnisch galten – denn mit dem Kreuzestod Jesu Christi war das endgültige und einzige gültige Opfer vollbracht –, wurden alle rituellen Handlungen, bei denen Tierbestandteile wie Gehirn kultisch oder magisch verwendet wurden, als unvereinbar mit dem christlichen Glauben verurteilt.
zu 17. Über heidnische Beobachtung am Feuer, oder bei Beginn einer Sache
Das Herdfeuer galt in vorchristlicher Zeit als heiliger Ort. Er wurde als Sitz von Hausgeistern, Ahnen oder der Göttin des Hauses (z. B. Vesta in Rom, Frigg oder Holla im germanischen Raum) gesehen. Man achtete daher auf Zeichen, wie etwa das Züngeln oder Flackern der Flamme, die Rauchrichtung oder den Funkenflug oder das Verhalten des Feuers beim Anzünden und beim Auflegen von Holz. Daraus wurden gute oder schlechte Vorzeichen gedeutet: etwa ob ein Tag günstig sei, ein Besucher komme oder ein Vorhaben gelingen würde.
Bei den Römern galt: omne initium difficile – der Beginn einer Handlung war besonders bedeutungsvoll. Auch in germanischen und keltischen Kulturen glaubte man, dass bestimmte Worte, Laute, Bewegungen oder Zwischenfälle beim Beginn einer Reise, eines Hausbaus, einer Rede oder anderer Handlungen das Schicksal beeinflussen. Man achtete z. B. darauf, wer zuerst das Haus betrat, ob jemand niesend, hustend oder mit leeren Händen kam oder ob etwas fiel, knallte oder zerbrach. Solche Zeichen galten als gute oder schlechte Omen, oft verbunden mit alten Sprüchen oder Deutungsregeln.
zu 18. Über unsichere Orte, die sie als heilig verehren
Das Wort incertis bedeutet hier nicht „unsicher“ im modernen Sinn von „gefährlich“, sondern eher „nicht geweiht“. Gemeint sind Naturorte, die vom vorchristlichen Volk als heilig verehrt wurden, aber nicht im Sinne der christlichen Liturgie geweiht oder anerkannt waren. Dazu gehörten etwa heilige Steine, Quellen, Brunnen, Teiche, Wälder, einzelne Bäume oder Baumgruppen, Hügel, Kreuzungen oder Grabhügel.
zu 19. Über die Anrufung, die sie Heilig Maria nennen
Dieser Eintrag richtete sich gegen eine synkretistische Praxis: Menschen taten so, als verehrten sie Maria, führten aber tatsächlich alte magische oder heidnische Rituale weiter, aber unter christlichem Vorwand. Für die Kirche war das besonders gefährlich, weil es nach außen hin christlich wirkte, aber inhaltlich Glaube mit Hexerei vermischte.
zu 20. Über Feiern, die sie für Jupiter und Merkur veranstalten
Die Kirche verurteilte die Weiterführung vorchristlicher Festtage zu Ehren antiker Gottheiten. Besonders Jupiter und Merkur lebten trotz Christianisierung im Volksglauben und Brauchtum weiter. Oft wurden ihnen zu Ehren bäuerliche oder dörfliche Feste gefeiert. Die Kirche bemühte sich, diese Festtage mit christlichen Festen zu überlagern.
zu 21. Über die Mondfinsternis, die sie Vinceluna nennen
Es gab einen heidnischen Volksbrauch, bei dem man während einer Mondfinsternis durch Lärm, Gesänge, Beschwörungen oder Rituale versuchte, den gefesselten Mond zu befreien und zu verhindern, dass er von finsteren Mächten geraubt werde.
zu 22. Über Unwetter, Stierhörner und Schnecken
Dieses Kapitel bezieht sich auf eine Gruppe von Bräuchen, mit denen Unwetter abgewehrt werden sollten – unter Verwendung von tierischen Symbolen oder rituellen Gegenständen wie Hörnern und Schneckenhäusern. Unwetter wurden im Volksglauben als dämonischer Angriff verstanden. Um sich dagegen zu schützen, griff man zu magisch-symbolischen Mitteln. Stierhörner wurden an Häusern angebracht oder ins Feld gesteckt, um Blitz, Hagel oder Sturm abzuwenden – sie waren Schutzzeichen mit abwehrender Kraft. Schnecken galten als Wetteranzeiger. Ihre Erscheinung wurde gedeutet. In manchen Regionen wurden Stierhörner während eines drohenden Unwetters geblasen, um die Gewitterwolken zu „vertreiben“. Diese Bräuche leben heute in alpinen Regionen noch im Wetterläuten weiter.
zu 23. Über Furchen rund um Gehöfte
Dieser Brauch ist aus germanischem, keltischem und auch römischem Umfeld gut belegt. Er diente dazu, durch ein magisch-symbolisches Umfurchen eine schützende Linie zu ziehen – eine Art magische Grenze. Dazu wurde ein Pflug oder Spaten verwendet, um kreisförmige oder rechteckige Furchen rund um ein Gehöft, eine Weide oder ein Dorf zu ziehen. Oft geschah dies zu bestimmten Zeitpunkten: z. B. im Frühjahr, bei Krankheit, nach Blitzschlag, zur Abwehr von Hexen oder bevor eine neue Familie einzog. Begleitet wurde es mit Beschwörungsformeln, Opfergaben (z. B. Milch, Brot) oder Segnungen. Die Furche hatte eine abwehrende Funktion – sie sperrte alles Böse aus und schützte das Innere.
zu 24. Über den heidnischen Umzug, den sie yrias nennen, mit zerrissenen Kleidern oder Schuhen
Mit yrias war aller Wahrscheinlichkeit nach ein saisonaler heidnischer Prozessionsbrauch der Germanen gemeint, bei dem in zerrissener Kleidung ein Lauf oder Umzug vollführt wurde – womöglich um Wintergeister zu vertreiben. In mitteleuropäischen Winteraustreibungs-Umzügen verkleideten sich junge Männer oft mit Lumpenkleidern, Stroh oder Fellen, um unheimliche Gestalten darzustellen. Noch heute erinnern die Schiachperchten in den Alpen mit ihren Fetzenkostümen an solche Rituale. Trotz der strengen Verurteilung durch die kirchlichen Autoren wirkt der Kern dieses Brauchs in volkstümlichen Traditionen bis in die Moderne nach – wenn auch in weiterentwickelter Form und ohne den ursprünglichen Namen yrias.
zu 25. Über das, was sie sich über irgendwelche Toten als Heilige ausdenken
Hier kritisiert der Indiculus vermutlich einen damals weitverbreiteten volkstümlichen Brauch: die Verehrung von Verstorbenen, die nicht offiziell als Heilige anerkannt waren, sondern durch die Bevölkerung selbst als solche verehrt wurden. Gemeint ist, dass Menschen bestimmten Toten – möglicherweise lokal verehrten Persönlichkeiten, Stammesführern oder Märtyrergestalten – eine heilige Bedeutung zuschrieben, ohne dass diese vom kirchlichen Prozess der Heiligsprechung durchlaufen worden wären.
zu 26. Über ein Götzenbild, das mit Mehl bestreut ist
Bei dieser Praxis dürfte es sich um sogenannte „Gebildbrote“ oder „Opferkuchen“ gehandelt haben, ein gebackenes Abbild eines Opfertieres oder einer Gottheit. So ist zum Beispiel bekannt, dass im altsächsischen Solmonath („Kuchen-Monat“) den Göttern Kuchen (statt des Opfertieres) geopfert wurde. In unserer Zeit kennen wir ein ähnliches Gebäck zum Beispiel als „Osterlamm“, ein Kuchen in Lammform.
zu 27. Über Götzenbilder, die aus Tüchern gemacht sind
Hier könnte es sich um die Puppen handeln, die wir gemeinhin aus der Voodoo-Tradition kennen, aber anders verwendet wurden: aus Stoff gefertigte Figuren, die symbolisch für Geister, Götter oder Schutzwesen standen. Die handgenähten Puppen waren möglicherweise gefüllt mit Stroh, Haaren oder Kräutern. Solche Figuren wurden entweder im Rahmen vorchristlicher Hausgeisterkulte als Schutzobjekte verwendet oder in bestimmten Ritualen verbrannt. In der heutigen Zeit kennen wir in Europa noch immer Jahreszeitenbräuche, bei denen eine Figur aus Stoff und Stroh (oft weiblich dargestellt, z. B. als „Winter“, „Percht“, „Kornmutter“) durch das Dorf getragen oder rituell verbrannt wird, um das Böse auszutreiben.
zu 28. Über das Götzenbild, das sie durch die Felder tragen
Hierbei könnte es sich um einen Feldumgang mit einer Götzenfigur handeln. Die heidnischen Vorformen dienten dazu, durch das Tragen einer göttlichen oder symbolischen Figur die Felder zu segnen, Unheil abzuwehren und die Ernte zu sichern. Die Figur konnte aus Holz, Stoff, Stroh oder anderem Material bestehen. Der Eintrag lässt sich auch als Hinweis auf vorchristliche Ursprünge der später kirchlich übernommenen Bittprozessionen (Flurumgänge) deuten.
zu 29. Über hölzerne Füße und Hände nach heidnischem Ritus
Eine der verbreitetsten Deutungen ist, dass es sich um Votivobjekte handelte: also kleine Nachbildungen von Körperteilen – in diesem Fall Hände und Füße –, die aus Holz gefertigt und als Opfergabe in Heiligtümern oder an Bäumen, Quellen oder Altären niedergelegt wurden. Solche Votivgaben waren in der römischen Antike üblich und haben sich möglicherweise im Volksglauben erhalten. In römisch beeinflussten Gebieten (Gallien, Britannien) wurden aus Holz geschnitzte Körperteile mit Heilritualen oder Weihehandlungen verbunden.
zu 30. Über den Glauben, dass Frauen den Mond beschwören könnten, um nach heidnischem Glauben Herzen der Menschen zu stehlen
Hier ist der weit verbreitete heidnischen Volksglauben an mondzaubernde Frauen gemeint, die durch Mond-Magie Liebe erzwingen oder Menschen beeinflussen konnten. Solche Vorstellungen gehörten zum festen Bestand altgermanischer, keltischer und romanischer Volksmagie.
Quellen:
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