Zum Inhalt springen
Startseite » Das Erbe heidnischer Weisheit » Die Legende von Isis und dem Namen des Re

Die Legende von Isis und dem Namen des Re

Papyrus Turin 1993, Text von Robert K. Ritner

Deutsche Übersetzung von Alvisi vom Roten Stein.

Nur wenige Texte veranschaulichen die rituelle Bedeutung des persönlichen Namens so deutlich wie dieser. Der Name wurde als ein wesentlicher Bestandteil des Wesens und als Quelle seiner Macht empfunden. Er diente nicht nur zur Identifikation, sondern definierte das Individuum selbst.
Im feindlichen Kontext konnte die Zerstörung eines Namens den Tod oder das Unglück seines Trägers bewirken – ein Glaube, der sowohl die zentrale Rolle von Namensnennungen in Verfluchungstexten (execration texts) als auch das Auslöschen königlicher Namen während dynastischer Konflikte erklärt.

Götter wiederum sollen geheime Namen besessen haben, die sowohl vor Verehrern als auch vor anderen Gottheiten verborgen gehalten wurden. Die innewohnende Kraft solcher göttlicher Namen wird ausdrücklich in einem späten Text, dem Papyrus BM 10188 (Anm.: Bremner‑Rhind Papyrus), beschrieben, in dem Re-Atum erklärt: „Magie ist mein Name.“

Ebenso wurden auch körperliche „Relikte“ als Träger persönlicher Energie verstanden und konnten magisch manipuliert werden. In dem hier behandelten Zauber ist es der Speichel des Schöpfers, der leblose Materie (Lehm) belebt – ganz im Einklang mit traditionellen ägyptischen Schöpfungsvorstellungen.

Die Hauptquelle dieses Zauberspruchs ist der Papyrus Turin 1993 (19. Dynastie), der als einziger Text den vollständigen Titel überliefert. Eine Faksimile-Ausgabe des Papyrus erschien bei Pleyte und Rossi (1869–76, Tafeln CXXXI:12–CXXXIII:14 sowie LXXVII + XXI:1–5); Auszüge finden sich bei Möller (1927: 29–32). Mindestens vier weitere zeitgenössische Fassungen der Beschwörung sind bekannt: HO 2 und HO 3,2; Ostrakon Deir el-Medineh 1263 sowie der Papyrus Chester Beatty XI. Für grundlegende Bibliographie und Übersetzungen siehe: Wilson (1969d), Borghouts (1978: 51–55) und Ritner (1993: 76, Anm. 337). Methodologische Anmerkungen finden sich ebenfalls bei Ritner (ebd.: 76, 83, 95–96 und 164).

•••ANFANG•••

ZAUBERSPRUCH des heiligsten Gottes,
der aus sich selbst heraus entstand,
der Himmel, Erde, Wasser,
den Atem des Lebens, Feuer, Götter, Menschen,
Kleinvieh, Herden, Reptilien,
Vögel und Fische erschuf,
der die Königsherrschaft der Götter und Menschen zugleich begründete –
mit Grenzen, die weit über zahllose Jahre hinausreichen, […]
und mit zahlreichen Namen.
Doch dieser Name war unbekannt; jener Name war niemandem bekannt.

Nun war Isis eine weise Frau.
Ihr Herz war verschlagener als das von Millionen unter den Menschen;
sie war wählerischer als Millionen unter den Göttern;
sie war anspruchsvoller als Millionen unter den Seligen Verstorbenen.
Es gab nichts, was sie im Himmel oder auf Erden nicht kannte –
gleich Re, der die Substanz der Erde geschaffen hatte.
Die Göttin fasste den Entschluss in ihrem Herzen,
den Namen des erhabenen Gottes zu erfahren.

Nun stieg Re wie an jedem Tag vor der Besatzung der Sonnenbarke ein
und nahm Platz auf dem Thron der beiden Horizonte.
Eine göttliche Altersschwäche hatte seinen Mund geschwächt,
sodass er seinen Speichel auf die Erde spie. Er spuckte ihn aus, und er fiel zu Boden.

Isis knetete ihn mit ihrer Hand, gemeinsam mit der Erde, auf der er lag.
Sie formte daraus eine edle Schlange; sie gab ihr die Gestalt eines Stachels.
Sie konnte sich nicht bewegen, obwohl sie lebendig war.

Isis ließ sie an der Wegkreuzung zurück,
auf der der große Gott gemäß dem Verlangen seines Herzens durch die beiden Länder zog.
Da erschien der edle Gott draußen, mit den Göttern des Palastes in seinem Gefolge,
denn er wollte wie gewöhnlich einen Spaziergang unternehmen.

Die edle Schlange biss ihn, und ein lebendiges Feuer entströmte aus seinem Leib.
Es stürmte unter den Bäumen. Der heiligste Gott bewegte seinen Mund;
die Stimme seiner Majestät erhob sich bis in den Himmel.
Seine Neunheit rief: „Was ist das? Was ist das?“
Und die Götter sagten: „Was? Was?“

Er fand keine Worte, um zu antworten.
Seine Lippen bebten, und alle seine Glieder zitterten.
Das Gift griff nach seinem Fleisch, wie das Hochwasser,
das alles erfasst, was sich ihm entgegenstellt.

Der große Gott fasste sich wieder und rief seinen Gefolgsleuten zu:
„Kommt zu mir, ihr, die ihr aus meinem Körper hervorgegangen seid,
ihr Götter, die aus mir geboren wurdet,
damit ich euch kundtun kann, was geschehen ist.
Etwas Schmerzhaftes hat mich durchbohrt.
Mein Herz erkennt es nicht.
Meine Augen haben es nicht gesehen.
Meine Hand hat es nicht erschaffen.
Ich kann es in keinem meiner Werke erkennen.
Ich habe nie zuvor ein solches Leiden erfahren.
Nichts ist schmerzhafter als dies.

Ich bin ein Edler, Sohn eines Edlen,
das Fluidum eines Gottes, hervorgegangen aus einem Gott.
Ich bin ein Großer, Sohn eines Großen.
Mein Vater hat meinen Namen ersonnen.
Ich bin einer mit vielen Namen und vielen Gestalten.
Meine Gestalt existiert in jeder Gottheit.
Man nennt mich Atum und Horus des Lobes.

Mein Vater und meine Mutter haben mir meinen Namen offenbart,
doch ich habe ihn in meinem Körper verborgen –
vor meinen Kindern –,
damit keine Macht eines männlichen oder weiblichen Magiers gegen mich entstehen kann.

Ich ging hinaus, um zu betrachten, was ich erschaffen hatte,
um durch die beiden Länder zu wandeln, die ich geschaffen habe –
und etwas hat mich gestochen.
Ich kenne es nicht.
Es ist nicht wirklich Feuer; es ist nicht wirklich Wasser,
doch mein Herz brennt, mein Körper zittert,
und alle meine Glieder bringen Kälte hervor.

Bringt mir die Kinder der Götter,
deren Worte magisch wirksam sind,
die ihre Sprüche kennen,
deren Weisheit bis in den Himmel reicht!“

Da kamen die Kinder des Gottes,
jeder von ihnen prahlte mit seiner Kraft.
Isis kam mit ihrer wirksamen Magie,
ihr Sprechen war der Atem des Lebens,
ihre Worte vertrieben das Leiden,
ihre Rede belebte den, dessen Kehle zugeschnürt war.

Sie sagte:
„Was ist es, was ist es, mein göttlicher Vater?
Was ist geschehen – hat eine Schlange dich geschwächt?
Hat eines deiner Kinder sein Haupt gegen dich erhoben?
Dann werde ich es mit wirksamer Magie stürzen,
damit es vor dem Anblick deiner Strahlen zurückweicht.“

Da öffnete der heilige Gott seinen Mund:
„Es geschah, dass ich auf dem Weg war,
spazierend durch die beiden Länder und die Wüsten.
Mein Herz verlangte danach, das zu sehen, was ich erschaffen hatte.
Ich wurde von einer Schlange gebissen, ohne sie gesehen zu haben.
Es ist nicht wirklich Feuer; es ist nicht wirklich Wasser –
aber ich bin kälter als Wasser und heißer als Feuer,
mein ganzer Körper ist vom Schweiß bedeckt.
Ich zittere, mein Auge ist unstet – ich kann nicht sehen.
Der Himmel ergießt Regen über mein Gesicht in der Zeit des Sommers!“

DA SPRACH Isis zu Re:
„Sprich mir deinen Namen, mein göttlicher Vater,
denn ein Mensch lebt, wenn man in seinem Namen ruft.“

Da sprach Re:
„Ich bin der, der Himmel und Erde erschaffen hat,
der die Berge miteinander verbunden hat,
der all das erschuf, was auf ihnen ist.
Ich bin der, der das Wasser erschuf,
damit der große Schwimmer ins Dasein trat.
Ich machte den Stier für die Kuh,
damit das Verlangen entstand.
Ich bin der, der den Himmel und die Mysterien der Horizonte erschuf;
ich setzte die Ba-Seelen der Götter in es hinein.
Ich bin der, der seine beiden Augen öffnet,
damit das Licht entsteht,
und der sie schließt,
damit die Dunkelheit eintritt.
Auf meinen Befehl hin schwillt die Flut an,
mein Name ist den Göttern unbekannt.
Ich bin der, der die Stunden schuf,
damit die Tage ins Dasein traten.
Ich bin der, der das Jahr eingeteilt hat,
der den Fluss erschuf.
Ich bin der, der das lebendige Feuer erschuf,
um das Handwerk des Palastes hervorzubringen.
Ich bin Chepre am Morgen,
Re am Mittag
und Atum am Abend.“

Doch das Gift wurde nicht in seinem Lauf aufgehalten,
der große Gott fand keinen Trost.

Da sprach Isis zu Re:
„Dein wahrer Name ist nicht unter jenen, die du mir genannt hast.
Sag ihn mir,
damit das Gift aus dir weicht –
denn ein Mensch lebt, wenn man seinen Namen ausspricht.“

Das Gift brannte mit einem brennenden Feuer –
es war stärker als Flamme oder Glut.

Da sprach die Majestät des Re:
„Gib mir deine beiden Ohren, meine Tochter Isis,
damit mein Name aus meinem Leib in deinen Leib übergehen möge.
Der Göttlichste unter den Göttern hat ihn verborgen,
damit meine Stellung in der Sonnenbarke der Millionen Jahre gestärkt werde.
Sollte sich ein ähnlicher Fall ereignen,
wenn ein Herz sich dir zuwendet,
so sprich ihn deinem Sohn Horus,
nachdem du ihn durch einen göttlichen Eid gebunden
und Gott in seine Augen gesetzt hast.“

Da offenbarte der große Gott Isis seinen Namen,
den großen Namen der Magie.

„Fließt heraus, Skorpione!
Tretet hervor aus Re, Auge des Horus!
Tretet hervor aus dem Gott, Flammen des Mundes!
Ich bin es, die euch erschaffen hat;
ich bin es, die euch gesandt hat.
Kommt zurück auf die Erde, mächtiges Gift!
Seht, der große Gott hat seinen Namen verkündet.
Re lebt – das Gift ist tot.
Durch das Wort der Großen Isis, Herrin der Götter,
die Re bei seinem eigenen Namen kennt!“

•••ENDE•••

Worte, die gesprochen werden sollen über einem Bild von Atum und von Horus-des-Lobes, einer Figur der Isis
und einem Bild des Horus, GEZEICHNET AUF DIE HAND DES GIFTOPFERS UND VON IHM ABGELECKT;
ebenso auf ein Band aus feinem Leinen gezeichnet, das dem Giftopfer an die Kehle gelegt wird.

Die Pflanze ist Skorpionkraut. Oder sie wird mit Bier oder Wein zerstampft und vom Skorpiongestochenen getrunken.
Sie tötet das Gift – wahrhaft wirksam, (mit Erfolg) millionenfach bewiesen.

Quellen:
The Legend of Isis and the Name of Re P. Turin 1993, englische Übersetzung von Robert K. Ritner, https://boscodiartemisia.academy


Beitragsbild: KI