Mitgefühl, Moral, Vernunft und Nächstenliebe. Das – so sagen die Christen – seien ihre Werte. Die historischen Ereignisse ab dem späten 4. Jahrhundert zeigen jedoch ein ganz anderes Bild des Christentums: Statt Mitgefühl herrschte Fanatismus. Statt Moral herrschte Rücksichtslosigkeit. Vernunft wich blindem Eifer und Nächstenliebe wurde ersetzt durch Verfolgung und Gewalt. Die Ideale der christlichen Botschaft standen in scharfem Kontrast zu dem, was im Namen dieser Lehre damals tatsächlich geschah.


Von der Duldung zur Staatsreligion
Die Weichen für diese Entwicklung stellte der römische Kaiser Konstantin der Große. Er gewährte mit dem Toleranzedikt von Mailand im Jahr 313 n. Chr. allen Bürgern des Römischen Reiches die freie Ausübung ihrer Religion. Das Römische Reich war ein weit verzweigtes Vielvölkerreich, das sich über drei Kontinente erstreckte und durch ein komplexes Geflecht aus Städten, Kulturen, Sprachen und Religionen geprägt war. Zu seinem Herrschaftsgebiet zählten unter anderem auch die Gebiete des heutigen Österreichs, Teile Deuschlands, Rumäniens, Serbiens, Kroatiens und Griechenlands.
Zum ersten Mal wurde damit auch das Christentum offiziell rechtlich anerkannt und unter den Schutz des römischen Rechts gestellt. Christen mussten nun keine Verfolgung mehr fürchten und konnten ihren Glauben öffentlich ausüben. In den folgenden 78 Jahren blieb es weitgehend ruhig: Die Bevölkerung, die sich aus Polytheisten, Christen, Juden, Anhängern des Isis- oder Mithraskults und Neuplatonikern zusammensetzte, lebte größtenteils friedlich nebeneinander. Überall im Reich standen Tempel verschiedener Glaubensrichtungen, die regelmäßig genutzt wurden. Gleichzeitig entstanden neue christliche Kirchen, deren Bau Konstantin großzügig unterstützte. So existierten über Jahrzehnte hinweg religiöse Vielfalt und Koexistenz innerhalb des Reiches.
Dann jedoch vollzog sich eine Wendung, mit der die Bevölkerung nicht gerechnet hatte. Konstantins Nachfolger, Kaiser Theodosius I., der erste Kaiser, der christlich erzogen worden war, erklärte das Christentum im Jahr 380 n. Chr. zur alleinigen Staatsreligion. Theodosius (347–395 n. Chr.) leitete eine radikale Politik der Christianisierung ein, die das religiöse Gleichgewicht im Römischen Reich grundlegend veränderte.
Alles Unchristliche galt plötzlich als Werk des Teufels
Alle anderen Religionen wurden fortan als heidnisch gebrandmarkt und schließlich im Jahr 391 n. Chr. gesetzlich verboten. Ihre Anhänger gerieten zunehmend unter Druck: Rituale, religiöse Praktiken und traditionelle Feste wurden untersagt, Heiligtümer im gesamten Reich geschlossen, entweiht oder zerstört oder in christliche Kirchen umgewandelt. Das Gesetz untersagte nicht nur Opfer aller Art, sondern auch den bloßen Besuch von Tempeln sowie die Verehrung von Götzenbildern, also Statuen, Figuren oder religiösen Symbolen. Wer sich weigerte, zum Christentum überzutreten, musste mit schweren Strafen rechnen – bis hin zu Folter und Hinrichtung(2).
Von einem Tag auf den anderen wurden Menschen, die mit ihren Göttinnen und Göttern groß geworden waren, als Häretiker bezeichnet. Sie durften keine Blumen mehr an ihre Hausaltäre legen, keine Opferbrote mehr backen, keine Räucheropfer mehr darbringen. Ihre Schutz- und Glücksamulette, die sie ein Leben lang begleitet und ihnen Sicherheit gespendet hatten, mussten abgelegt und zerstört werden. Kinder, die sich jedes Jahr auf die Saturnalien gefreut hatten – auf Geschenke, Spiele und das fröhliche Umkehren der Rollen zwischen Erwachsenen und Kindern –, durften dieses Fest plötzlich nicht mehr feiern. Die Geschichten über den Gott Saturn, die sie seit früher Kindheit kannten, galten nun als falsch, heidnisch, sündhaft.
Für die Bevölkerung brach das gewohnte Leben vollständig zusammen. Es war nicht nur ein religiöser Umbruch, sondern ein Verlust von Identität, Geborgenheit und kulturellem Halt. Und das betraf nicht eine kleine Minderheit – zu dieser Zeit war nur etwa 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung christlich; der Rest – also rund die Hälfte des Reiches – lebte noch in den polytheistischen Traditionen, die nun verboten und verfolgt wurden.
Der Beginn einer beispiellosen Zerstörung
Als Reaktion auf das gesetzliche Verbot aller heidnischen Religionen kam es ab dem Jahr 391 vielerorts zu gewaltsamen Übergriffen auf heidnische Tempelanlagen und Heiligtümer – sowohl durch staatliche Anordnung als auch durch christliche Gruppen, die religiösen Eifer mit politischer Unterstützung verbanden. Diese Zerstörungen und Entweihungen beschränkten sich keineswegs nur auf Rom, sondern erstreckten sich über das gesamte Römische Reich. Rom war nur das Land, in dem die Zerstörung begann. Zur selben Zeit wurden auch in anderen Provinzen – etwa im Gebiet des heutigen Griechenlands – Altäre niedergerissen, Götterstatuen zerstört und jahrhundertealte Heiligtümer entweiht. Es handelte sich um eine reichsweite Bewegung, die das kulturelle und religiöse Erbe ganzer Regionen radikal veränderte.
In Dodona, im Nordwesten Griechenlands, stand seit vielen Jahrhunderten eine altehrwürdige Eiche. Sie galt als heilig, lange bevor es die antike griechische Religion überhaupt gab. Bereits in vorgriechischer Zeit war sie der Mittelpunkt eines archaischen Gaia-Kults und der Erdgöttin Gaia geweiht. Der Baum wurde als Wohnsitz der Göttin verehrt – ein Ort, an dem die göttliche Gegenwart unmittelbar spürbar war. Die Menschen brachten dort Opfer dar und führten Rituale aus.
Die Kultstätte selbst war im Lauf der Geschichte mehrfach zerstört worden – 221 v. Chr. durch die Ätoler und 168 v. Chr. durch die Römer(1) –, doch die heilige Eiche blieb stets unversehrt. Trotz politischer Umbrüche und kriegerischer Verwüstungen hatte niemand es je gewagt, diesen Baum zu fällen – so tief war sein heiliger Status im Bewusstsein der Menschen verwurzelt.
Als der ursprüngliche Gaia-Kult allmählich vom griechischen Polytheismus abgelöst wurde, ließen auch die Griechen den heiligen Baum unangetastet. Anstatt sie zu zerstören, integrierte man sie in die neue religiöse Ordnung: Sie wurde nun dem Göttervater Zeus und der Göttin Dione geweiht.
Rund um die ehrwürdige Eiche rankten sich im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Erzählungen und Mythen. Die bei den alten Griechen bekannteste berichtet von einem wundersamen Ereignis: Einer alten Überlieferung zufolge soll einst eine schwarze Taube aus Theben auf dem heiligen Baum gelandet sein. Doch sie blieb nicht stumm – mit menschlicher Stimme habe sie zu den Bewohnern gesprochen und ihnen geboten, an diesem Ort ein Orakel zu errichten. So entstand das berühmte Zeus-Orakel von Dodona. Die schwarze Taube wurde nicht als gewöhnliches Tier verstanden, sondern als heilige Botin göttlicher Weisung. In der religiösen Vorstellung der Griechen verband sich das Bild der sprechenden Taube später mit den Priesterinnen des Heiligtums – den sogenannten Peleiaden (wörtlich übersetzt „Tauben“).
Seitdem wurde die große Eiche in Dodona von der altgriechischen Bevölkerung als heiliger Orakelbaum verehrt und von drei Priesterinnen, den sogenannten Peleiaden, betreut. Sie galten als Mittlerinnen zwischen den Fragenden und der göttlichen Stimme, die durch die Natur sprach. Menschen aus nah und fern pilgerten zu dieser Eiche, um das Orakel zu befragen und göttlichen Rat zu erbitten. Das Orakel von Dodona war ebenso berühmt wie das von Delphi.
Die Besucher formulierten ihre Fragen an die Gottheit auf kleinen Bleitäfelchen, die sie in einen Krug warfen. Die Antwort wurde anschließend durch die Priesterinnen gedeutet – aus dem Rauschen der Blätter im Wind, aus dem Gurren von Tauben, die sich im Baum aufhielten, oder aus dem Klang der bronzenen Hängeschalen, die am Baum angebracht worden waren. Auch Träume und innere Bilder, die die Bittsteller während ihres Aufenthalts im heiligen Hain empfingen, galten als bedeutungsvoll und wurden von den Peleiaden rituell ausgelegt.
Wenn gerade keine Pilger anwesend waren, widmeten sich die Priesterinnen der Pflege des heiligen Bereichs. Sie sorgten für die Reinigung des Bodens rund um die Eiche, hielten Tiere und Menschen fern, die dem Baum schaden könnten, und bewahrten die heilige Stille des Ortes. Zudem brachten sie regelmäßig Wasser, Früchte oder Brote als Opfergaben dar – in Ehrfurcht vor der Göttin, die in diesem Baum gewohnt haben soll.
Irgendwann im Jahr 392 n. Chr., so berichten spätere Überlieferungen, kam ein illyrischer Mann – ein christlicher Eiferer – nach Dodona und fällte die heilige Eiche. Mehr ist über diesen Tag nicht überliefert. Doch allein die Tat, einen derart bedeutungsvollen und seit Jahrtausenden verehrten Baum zu zerstören, lässt vermuten, dass sie nicht spontan geschah. Vielmehr dürfte sie geplant und gezielt vorbereitet worden sein.
Die Eiche stand nicht ungeschützt. Die Peleiaden bewachten sie mit Hingabe und sorgten für ihre Unversehrtheit. Wer den Baum fällen wollte, musste also zunächst sie zum Schweigen bringen. Es liegt nahe, dass mehrere Männer beteiligt waren, die den Ort bei Nacht aufsuchten – in der Dunkelheit, um unentdeckt zu bleiben. Die Priesterinnen wurden vielleicht überwältigt, gefesselt und geknebelt, damit ihre Schreie nicht gehört wurden, als die Eiche unter Axtschlägen fiel. Für die Priesterinnen, die sich Tag für Tag in ritueller Verbindung mit diesem Baum befunden hatten – für die dieser Ort nicht nur Kult, sondern Lebenssinn war –, muss der Anblick seines Falls wie der Zusammenbruch der eigenen Welt gewesen sein.
Bäume zerstören als Akt der „Moral“ und „Nächstenliebe“
Die Zerstörung des Heiligtums von Dodona war kein isoliertes Ereignis, sondern Teil einer gezielten, reichsweiten Kampagne zur Auslöschung heidnischer Kultstätten. Angeführt und legitimiert wurde dieses Vorgehen von kirchlichen Würdenträgern, die die alten Heiligtümer als teuflisch, verführerisch und gefährlich für die „wahre“ Religion einstuften. Wer sich an ihrer Zerstörung beteiligte, galt als fromm, als standhafter Christ und als Werkzeug im Dienste Gottes. Der Abriss jahrhundertealter Tempel und Kultplätze wurde so nicht nur geduldet, sondern offen befürwortet – nicht selten sogar durch Predigten angestachelt.
An vielen Orten beteiligten sich auch Mönche und Priester aktiv an diesen Zerstörungen. Sie rissen Altäre nieder, schleiften Statuen, zertrampelten Opfergaben und entweihten heilige Orte, die für Generationen zentraler Teil des spirituellen Lebens gewesen waren. Was zuvor als göttlich galt, wurde nun als dämonisch gebrandmarkt – und wer Hand anlegte, wurde mit Anerkennung und religiösem Lob belohnt.
Ebenfalls in dieser Zeit verfasste der heidnische Rhetor Libanios seine berühmte Rede Pro templis („Für die Tempel“)(4), die sich direkt an Kaiser Theodosius I. richtete. In eindringlichen Worten protestierte er gegen die Zerstörung der heidnischen Heiligtümer und klagte die wachsende Gewalt christlicher Mönche an.
Er schilderte, wie schwarzgewandete Mönche – angetrieben von fanatischem Eifer – von Tempel zu Tempel zogen, Altäre stürzten, Götterbilder zertrümmerten, Mauern einrissen und das religiöse Erbe ganzer Landstriche auslöschten. Libanios sprach nicht nur von materieller Zerstörung, sondern auch vom seelischen Verlust der Bevölkerung, die mit der Entweihung der Tempel ihre spirituelle Heimat und jahrhundertealte Traditionen verlor. Seine Rede war ein leidenschaftlicher Appell an den Kaiser, die Gewalt zu beenden und die Tempel vor weiterem Unheil zu bewahren, zeigte jedoch keinen Erfolg. Der Kaiser blieb bei seiner Politik der konsequenten Christianisierung.
Die Zerstörung und Umwidmung heidnischer Kultstätten(3) setzte sich über rund 4 Jahrhunderte hinweg fort. Als im 7. Jahrhundert Österreich christianisiert wurde, errichteten christliche Missionare die Stiftskirche St. Peter in Salzburg direkt über den Überresten eines römischen Tempelbezirks. Dort, wo zuvor Götter wie Jupiter oder Merkur verehrt worden waren, entstand nun ein christliches Zentrum, das die neue Religion dauerhaft im ehemals römisch-heidnischen Raum verankern sollte.
Zur gleichen Zeit geschah Ähnliches weiter nördlich: In Sachsen ließ Karl der Große im Jahr 772 n. Chr. während seiner gewaltsamen Christianisierungskampagnen zentrale heidnische Heiligtümer zerstören – darunter die Irminsul, ein sakraler Baum- oder Pfeilerkultort der germanischen Sachsen oder die Donareiche bei Geismar.
Die Zerstörung heiliger Bäume war ein wiederkehrendes Motiv in der christlichen Missionierung und diente als gezielter Angriff auf den weit verbreiteten Baumkult der vorchristlichen Kulturen. Die Christen wussten genau, dass sowohl die Römer als auch die Griechen und insbesondere die Germanen Bäume verehrten und sie als zentrale Symbole ihres Glaubens betrachteten. Durch die gezielte Fällung dieser Bäume und ihre ideologische Umdeutung ins Gegenteil suchten die christlichen Missionare, die vermeintliche Überlegenheit ihres Glaubens gegenüber den heidnischen Vorstellungen sichtbar zu machen. Wie sie viele Elemente der vorchristlichen Religionen ins Gegenteil verkehrten, so taten sie es auch mit den heiligen Bäumen: Was zuvor als heilig und lebensspendend galt, wurde nun als dämonisch verachtet – die einst verehrten Bäume galten plötzlich als Wohnstätten von finsteren Mächten und mussten vernichtet werden. Die Zerstörung dieser Naturheiligtümer war ein bewusst eingesetztes Mittel, um die alten Kulte zu entmachten und den Weg für die Etablierung des Christentums zu ebnen.
Im 8. Jahrhundert war das Christentum in weiten Teilen des Römischen Reiches fest verankert, und viele heidnische Tempel und Heiligtümer im heutigen Europa waren bereits zerstört, entweiht oder in christliche Kirchen umgewandelt worden. Nur in Skandinavien hielt sich der alte Götterglaube noch über weitere vier Jahrhunderte. Erst im 12. Jahrhundert konnte sich das Christentum dort endgültig durchsetzen. Bis dahin kam es auch weiterhin zur Zerstörung heidnischer Kultstätten – ein Beispiel ist das Heiligtum von Arkona auf Rügen, das im Jahr 1168 von den christlichen Dänen gewaltsam niedergerissen wurde.
Weiterführende Literatur:
(1) Sagenumwobene Stadt Dodona, griechenland-abc.de
(2) Wie die frühen Christen die antike Kultur zerstört haben, arnstrohmeyer.de
(3) Brief von Papst Gregor der Große an Abt Mellitus über die Bekehrung der Angelsachsen, 601 n. Chr. weiberkraft.com
(4) Pro templis – Für die Tempel, Libanios, ab. ca. 391 n. Chr., weiberkraft.com
Selected Works of Libanius, Schriften von Julians Lehrer, archive.org
Beitragsbild: KI