Armut als Schuld
Opfer der Hexenverfolgung im Burgenland
Die alte Thurl, Mutter und Witwe des verstorbenen Mathias Hueter und wohnhaft in Pinkafeld, wurde auf Grundlage haltloser Gerüchte der Hexerei beschuldigt und hingerichtet. Die Vorwürfe stützten sich auf vage Erinnerungen, Missdeutungen und soziale Vorurteile – nicht jedoch auf konkrete Beweise. Von einer eigenen Aussage oder Verteidigung der Angeklagten existieren keinerlei Aufzeichnungen.

Hoheitsgewalt: Habsburgische Erblande
Herrschaftsform: Monarchie / Grundherrschaft unter der ungarischen Magnatenfamilie Batthyány / Herrschaft Pinkafeld
Landesherrschaft: Erzherzogtum Österreich unter der Enns
Reichszugehörigkeit: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation
Reichskreiszugehörigkeit: Österreichischer Reichskreis
Höchste kirchliche Autorität: Papst Innozenz XI.
Höchste regionale kirchliche Autorität: Diözese Raab (Győr), Leopold Karl von Kollonitsch
Höchste weltliche Autorität: Kaiser Leopold I.
Höchste regionale weltliche Autorität: Grundherr Sigmund I. Batthyány
Weitere Beteiligte:
Ihr einziges Verbrechen bestand darin, arm zu sein. Im 17. Jahrhundert erlebten Menschen in ländlichen, bäuerlich geprägten Gegenden eine harte soziale Ausgrenzung, wenn sie in Armut lebten. Statt christlicher Nächstenliebe begegnete man ihnen mit Misstrauen, Ablehnung und offener Feindseligkeit. Die Ideale von Barmherzigkeit und Mitgefühl, die das Christentum eigentlich predigte, fanden in der gesellschaftlichen Realität kaum Anwendung. Vielmehr wurden Armut und Bedürftigkeit als moralisches Versagen betrachtet, was zu einer tiefen gesellschaftlichen Kluft führte – eine Kluft, die jene am härtesten traf, die ohnehin nichts besaßen.
Genau das lässt sich auch aus den Zeugenaussagen[1] zum Fall der alten Thurl herauslesen. Die Dorfbewohner begegneten der alten Thurl mit offener Feindseligkeit. Ihre Armut machte sie zur Außenseiterin und zur Zielscheibe von Misstrauen und Ablehnung. So wollte etwa niemand etwas von ihr annehmen, selbst wenn sie nur Geschenke machen wollte. Ihre gutgemeinten Gaben wurden abgelehnt, weil man ihr schlicht keinen Platz in der Dorfgemeinschaft zugestehen wollte. Dass man sie nicht auf dem eigenen Hof sehen wollte und vertrieb, verdeutlicht die tiefe soziale Ächtung, unter der sie litt. Dabei konnten der alten Thurl nicht einmal im Rahmen der Aussagen zum Hexereivorwurf etwas wirklich Böses nachgesagt werden. Selbst jene, die ihr mit Ablehnung begegneten, gestanden mit ihren Aussagen – wenn auch indirekt – ein, dass sie weder jemanden beschimpft noch verflucht hatte und mit niemandem je in einen Streit geraten war. Im Grunde war die alte Thurl war eine friedliche und freundliche Frau.
Der Name der „alten Thurl“ geht vermutlich auf ein Zusammenspiel verschiedener Sprach- und Dialekteinflüsse zurück. In Pinkafeld lebten über lange Zeit hinweg Kroaten und Ungarn zusammen, wodurch sich sprachliche Vermischungen ergaben. Der Begriff „tur“ bezeichnete in kroatischer Sprache historisch den Auerochsen[2] und wurde in der Region, die heute zum Bundesland Burgenland gehört, im bäuerlich-ländlichen Sprachgebrauch als Bezeichnung für Ochsen oder Rinder verwendet. Möglicherweise besaß die alte also Thurl einst einen Ochsen als Arbeitstier, mit dessen Hilfe sie ihren kleinen Acker bewirtschaftete, auf dem sie Getreide und Feldfrüchte anbaute.
Die alte Thurl zählte gemeinsam mit ihrem Mann schon immer zu den Ärmsten im Ort. Das zeigt sich unter anderem in einer Situation, in der ihr Mann einen Bauern demütig darum bat, keine weiteren Schritte gegen seine Frau einzuleiten – ein Verhalten, das seine gesellschaftlich schwache Stellung zum Ausdruck brachte. Die übrigen Dorfbewohner standen den beiden sowohl wirtschaftlich als auch sozial deutlich übergeordnet gegenüber.
Die alte Thurl war über viele Jahre hinweg Teil der Dorfgemeinschaft – die Aussagen der Zeugen beziehen sich auf Vorfälle, die zum Teil bereits zwölf Jahre zurücklagen. Nur eine einzige Begebenheit scheint zum Zeitpunkt der Aussage noch relativ frisch gewesen zu sein. So wollte die Thurl der jungen Magd der Familie Neumeyer eine Kerze schenken – keine gewöhnliche, sondern eine „dicke Kerze mit einem auffälligen blauen Ring“ in der Mitte. Die Magd lehnte das Geschenk ab und erklärte, ihre Dienstherren würden dies nicht wünschen. Die alte Thurl verließ daraufhin das Haus, kehrte jedoch nach einiger Zeit mit einem weiteren Geschenk zurück, das die Magd als verstörend beschreibt: für sie sah das Geschenk von der alten Thurl aus wie ein Nachttopf, in dem sich ihrer Aussage nach etwas befand, das wie menschlicher Kot aussah. Bei dem Inhalt könnte es sich in Wahrheit jedoch um ein einfaches Getreidegericht gehandelt haben, wie es im 17. Jahrhundert in ländlichen Gegenden weit verbreitet war. Das Gericht wurde „Brauner Brei“ oder „Brauner Grieß“ genannt, und wurde aus Roggenmehl oder grobem Grieß zubereitet und durch langes Rösten dunkel gefärbt. Breie wie diese gehörten zu den Grundnahrungsmitteln der ärmeren Bevölkerung. Sie waren preiswert und nahrhaft und deshalb auch fester Bestandteil des bäuerlichen Alltags. Was der armen alten Thurl vermutlich noch geblieben war, war etwas Getreide – und daraus bereitete sie der Magd einen einfachen Brei zu. In diesem Licht betrachtet, verliert das vermeintlich verstörende Geschenk seine unheimliche Wirkung und wird zum Ausdruck von Freundlichkeit, der jedoch durch Ablehnung und Misstrauen überlagert und bewusst missverstanden wurde. Im 17. Jahrhundert gab es zudem auch Gefäße zum Kochen oder Servieren, die in ihrer Form durchaus an einen Nachttopf erinnerten. Dennoch war es ausgerechnet diese Aussage, die letztlich zur Erhebung der Anklage führte, weil es sich bei dieser Begebenheit um das jüngste Ereignis handelte, auf das sich die Befragung stützen konnte.
Die drei weiteren Begebenheiten, zu denen die Zeugen befragt wurden, lagen zum Zeitpunkt der Einvernahme bereits sechs, sieben bzw. zwölf Jahre zurück. Elisabetha Edtenhofferin berichtete in ihrer Aussage von einem Vorfall, der bereits sieben Jahre zurückliegt. Damals befand sie sich im Wochenbett, als die alte Thurl zu ihr kam und – so schildert es Elisabetha – ihr das sechs Wochen alte Kind wegnehmen wollte. Nur durch lautes Anschreien habe sie sie davon abhalten können. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die alte Thurl lediglich den Wunsch hatte, das Kind in den Arm zu nehmen. Angesichts der gesellschaftlichen Stellung der Thurl und der ihr entgegengebrachten Ablehnung erscheint es plausibel, dass der Vorfall weniger bedrohlich war, als er im Nachhinein dargestellt wurde. Zudem suchte die alte Thurl offenbar die Versöhnung. Nach einiger Zeit kehrte sie zur Tür der Edtenhofferin zurück – mit einem Striezel und drei Eiern in der Hand. Es scheint, dass sie noch ein paar Hühner hielt und etwas Mehl besaß. Also buk sie aus dem wenigen, das sie besaß, einen Striezel und brachte auch Eier mit – als Geste der Entschuldigung.
Jakob Rauscher, Mathias Pfeiffer und Oszwald Palsinger berichten in ihren Aussagen von einem Vorfall, der zum Zeitpunkt der Befragung bereits zwölf Jahre zurücklag. Damals, so heißt es, habe die alte Thurl das Glockenseil der Kirche mit Rahm beschmiert. Diese Erzählung wirkt jedoch wenig glaubwürdig und dürfte eher auf einem Gerücht beruhen. Üblicherweise befand sich das Glockenseil im Kirchturm, einem verschlossenen Bereich, der nur bestimmten Personen zugänglich war. Dass eine einfache Dorfbewohnerin wie die alte Thurl ohne besondere Erlaubnis Zugang zu diesem Bereich hatte, erscheint höchst unwahrscheinlich. Im 17. Jahrhundert war das Läuten der Kirchenglocken zudem eine Aufgabe, die ausschließlich Männern vorbehalten war.
Die nächste Begebenheit, die von Marghareta Bruckherin zu Protokoll gegeben wurde, lag zum Zeitpunkt der Aussage bereits sechs Jahre zurück. Damals, so berichtete sie, sei die alte Thurl durch den Hintereingang in ihren Hof gekommen und habe sie darauf hingewiesen, dass ihre Kühe unruhig seien und Lärm machten. Als die Bruckherin gemeinsam mit ihrem Knecht nachsah, stellte sie fest, dass einige der Tiere losgebunden waren – obwohl kurz zuvor eine Magd die Kühe noch gemolken hatte und zu diesem Zeitpunkt alles in bester Ordnung gewesen war. Der Vorfall liest sich wie ein klassisches Beispiel für das Prinzip „tötet den Überbringer der schlechten Nachricht“: Es kann gut sein, dass die Thurl tatsächlich nur helfen wollte, und dafür jedoch umgehend mit Misstrauen belegt wurde. Zu dieser Zeit lebte der Ehemann der alten Thurl, Mathias Hueter, noch. Auch er wurde in der Aussage von der Bruckherin erwähnt: Nachdem der Ehemann der Bruckherin mitbekommen hatte, was passiert war, hätte er dem Ehemann der alten Thurl gegenüber geäußert, dass, wenn nicht bald etwas unternommen werden würde, „er selbst das Holz für die Verbrennung der alten Thurl zur Verfügung stellen werde“. Mathias Hueter trat für seine Frau ein, bat demütig darum, nichts weiter gegen sie zu unternehmen, und versicherte, er werde sich selbst darum kümmern. Dieses Verhalten zeigt nicht nur, dass er zu seiner Frau hielt, sondern auch, dass zwischen den beiden eine stabile, langjährige, liebevolle Beziehung bestand. Die Dorfbewohner hingegen hatten ein völlig verzerrtes Bild von ihr. Sie projizierten ihre Ängste und Abneigungen auf eine Frau, die sich ihnen nie wirklich widersetzte – und die gerade dadurch zur idealen Projektionsfläche wurde.
Vermutlich zählten auch die Tochter der alten Thurl und deren Ehemann, Mathias Nörrer, zu den wirtschaftlich Schwachen des Dorfes – arm, am Rand der Gemeinschaft stehend, ohne Einfluss und ohne Gehör. Es wirkt, als hätte man ihnen von vornherein kein Gehör schenken wollen. Obwohl sie der Angeklagten am nächsten standen, finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass sie im Verlauf des Verfahrens befragt wurden. Über die Tochter schweigen die Quellen gänzlich – sie bleibt in den Aufzeichnungen vollkommen unsichtbar. Auch von der alten Thurl selbst ist kein einziges Protokoll einer Befragung erhalten. Man verweigerte ihr offenbar nicht nur die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, sondern auch das elementare Recht, sich zu verteidigen.
Vier Begebenheiten genügten dem Gericht, um über das Leben der alten Thurl zu richten – Begebenheiten, die sämtlich auf Gerüchten, Missdeutungen und bizarren Anschuldigungen beruhten und zum Teil auf Vorfälle verwiesen, die bereits bis zu zwölf Jahre zurücklagen. Dennoch hielt man sie für ausreichend, um ein Todesurteil zu fällen und eine Frau hinzurichten, deren einziges Vergehen offenbar darin bestand, arm, einsam und angreifbar zu sein.
„Viele (auch heute noch) glauben, dass Magier mit ihren Künsten die Elemente verwirren, das Wetter beeinflussen, unschuldige Menschen in Verwirrung stürzen und durch verborgene Kräfte ihren Feinden Schaden zufügen können – durch verdorbene Speisen, wilde Tiere oder andere Mittel des Missbrauchs. Solche Schadenszauberei wird entweder durch echte Hexerei, durch Zaubertränke, durch Vergiftung, durch giftige Kräuter oder durch andere Mittel bewirkt, die auf vielfältige Weise zubereitet und verwendet werden, um Menschen Schaden zuzufügen oder Tiere zu vernichten.“
Binsfeld Peter, Tractatus de confessionibus maleficorum et Sagarum recognitus, 1605
Quellen:
[1] Die Hexenprozesse von Pinkafeld, zobodat.at
[2] „Auerochse“, wiktionary.org
Die Hexenprozesse von Pinkafeld, zobodat.at
Weiterführende Literatur zur alten Thurl:
Hexenprozesse in der Frühen Neuzeit, atlas-burgenland.at
Hexenprozesse in Pinkafeld in den Jahren 1688 und 1699, oesterreichwiki.org
Bild: KI