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Möglichkeitsraum 2: Kollektive Fürsorgeinfrastrukturen

Familie, Finanzen, Freiheit: Ideen zur geglückten Tradmoderne, Teil III

03.08.2025

Viele Mütter stoßen früher oder später auf eine fundamentale Leerstelle im westlichen Lebensmodell: Fürsorge wird privatisiert, unsichtbar gemacht – und vor allem: individualisiert. Während über Arbeitszeitmodelle und Karrierewege laut nachgedacht wird, bleibt die Frage, wer eigentlich den Alltag mit Kind trägt, unbeantwortet. In den Medien wird diese Frage reflexartig auf die Mutter zurückverwiesen. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte: Wirklich tragfähige Frauenleben entstehen dort, wo Sorgearbeit geteilt wird.

Allmende-Familie statt Vereinzelungshaushalt

Die Idee ist nicht neu – und gerade deshalb so kraftvoll: Menschen schließen sich zusammen, um Sorgearbeit gemeinschaftlich zu tragen. Was früher in Großfamilien, Dorfgemeinschaften oder Klosterhöfen funktionierte, könnte heute in Form neuer Wohnmodelle realisiert werden: Mehrgenerationenhäuser, Co-Housing-Projekte, Muttersolidar-WGs oder Sorgengemeinschaften, die bewusst Fürsorge, Verantwortung und Lebenszeit miteinander teilen.

Die sogenannte Allmende-Familie denkt Mutterschaft nicht mehr exklusiv, sondern kooperativ. Kinder sind nicht das „Privatvergnügen“ einzelner, sondern eingebettet in ein soziales Netz aus Bezugspersonen, Alltagsbegleitern und verlässlichen Händen. Dadurch entsteht für Mütter (und Väter) nicht nur mehr Spielraum, sondern auch eine geteilte emotionale und organisatorische Last. Der Alltag wird kollektiv verhandelt – und nicht einsam gemanagt.

Professionelle Fürsorge als öffentliches Gut

Neben der selbstorganisierten Variante braucht es aber auch institutionelle Antworten: Kinderbetreuung darf keine Marktleistung bleiben. Sie ist ein öffentliches Gut – ebenso grundlegend wie saubere Luft oder sichere Straßen. Eine neue Tradmoderne kann deshalb nicht bei Work-Life-Balance-Apps stehenbleiben, sondern muss strukturell ansetzen: kostenlose, qualitativ hochwertige Betreuungseinrichtungen, mitarbeiterfreundliche Öffnungszeiten, Anerkennung von Fürsorge als Profession – und nicht als niederschwelliges Beschäftigungsfeld für Frauen.

Wer Fürsorge verlässlich organisiert, ermöglicht nicht nur Erwerbstätigkeit, sondern schützt auch Kinder vor Armut, Isolation und Bildungsungleichheit. Und nicht zuletzt: Er entlastet Frauen, ohne ihnen ihre Mutterrolle streitig zu machen.

Verlässliche Nähe statt institutioneller Kälte oder privater Erschöpfung

Zwischen zwei Extremen – der kalten Institution auf der einen Seite und der überlasteten Mutter in der Zwei-Zimmer-Wohnung auf der anderen – liegt ein Möglichkeitsraum: sorgende Nähe, die nicht zwangsläufig biologisch oder romantisch begründet sein muss. Freundinnen, Nachbarinnen, Wahlverwandte, Patenmodelle – sie alle können Teil einer neuen Care-Architektur werden, in der das Mütterliche nicht zur Bürde, sondern zur sozialen Ressource wird.

Warum ist das noch kein Standardmodell?

Weil der Mythos der Autonomie tief sitzt. Weil das Ideal des autarken Erwachsenen als modern gilt – und Abhängigkeit als Scheitern. Und weil die Leistungsgesellschaft Fürsorge weder sieht noch ehrt. Doch genau hier liegt die politische Sprengkraft des Allmende-Gedankens: Er entzieht sich der Logik von Markt und Staat und schafft eine eigene Infrastruktur – solidarisch, flexibel und zukunftsfähig.

Von der Idee zur Wirklichkeit: Was es braucht

Wohnräume, die geteilte Sorge möglich machen: architektonisch, rechtlich, finanziell.
Politische Förderung: von Sorgestrukturen jenseits der klassischen Kleinfamilie.
Neue Berufsbilder im Bereich Community Care: mit fairer Bezahlung und kultureller Anerkennung.
Einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel: Nicht „die Mutter“ ist das Problem – sondern ihre Vereinzelung.

Fürsorge ist keine private Aufgabe – sie ist ein kollektives Zukunftsprojekt

Wer von Tradmoderne spricht, darf nicht nur vom Arbeiten reden. Er muss auch vom Leben sprechen. Von geteiltem Kümmern, verlässlicher Nähe, gesellschaftlicher Mitverantwortung. Die moderne Mutter kann mehr sein als die überforderte Einzelkämpferin oder die domestizierte Heilige – wenn sie von realen Strukturen getragen wird. Denn das eigentliche Ziel ist nicht Vereinbarkeit, sondern Zugehörigkeit.

Teil I: Tradmodelle
Teil II; Möglichkeitsraum 1: Kooperative Erwerbsmodelle
Teil IV; Möglichkeitsraum 3: Mutterschaft als politische Triebfeder


Beitragsbild: KI